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Drama 2008: Jährlich grüßt Glock das Murmeltier

Von Andreas Reiners
Jubel bei Lewis Hamilton, Timo Glock hatte nach dem GP weniger zu lachen

Jubel bei Lewis Hamilton, Timo Glock hatte nach dem GP weniger zu lachen

Die dramatische Titelentscheidung 2008 ist bereits elf Jahre her. Für einige Fans fühlt es sich offenbar so an, als sei es gestern passiert. Denn sie feuern auch heute noch gegen den angeblichen Titelentscheider Glock.

Läppische 39 Sekunden. Was ist das schon? Ein Wimpernschlag innerhalb einer langen Karriere in der Formel 1. Ein paar Momente, eine halbe Runde, ein Mini-Ausschnitt, mehr nicht. Schnell wieder vergessen, abgehakt.

Doch die 39 Sekunden am 2. November 2008 waren anders. Intensiv, nachhaltig, prägend für alle, die involviert waren. Es gibt Aufnahmen von damals, die zeigen, wie emotional dieser Sport sein kann, wie brutal, wie mitreißend und schmerzhaft, wie ungerecht, wie schön. In diesen 39 Sekunden steckt all das drin, Freude, Trauer, Glück, Verbitterung. Eine Achterbahn der Gefühle.

Kollektiver Freudentaumel

Als Felipe Massa über die Ziellinie fährt, bricht auf dem Autodromo Jose Carlos Pace das Chaos aus, die brasilianischen Fans rasten aus, liegen sich in den Armen, der Jubel ist ohrenbetäubend. In der Ferrari-Box ertrinkt Massas Familie im kollektiven Freudentaumel.
Parallel die Verzweiflung in der McLaren-Garage. Lewis Hamilton muss Fünfter werden, liegt wenige hundert Meter vor dem Ziel auf Rang sechs. Alles aus, verloren, so scheint es.

Doch da taucht der Toyota von Timo Glock auf, der Deutsche wehrt sich nicht, weil er es nicht kann, er lässt sich von Hamilton überholen, der in der letzten Kurve des letzten Rennens diesen fünften Platz übernimmt, der alles bedeutet.

Massa erfährt es auf der Auslaufrunde, dass es doch nicht gereicht hat. In dem Video sieht man, wie der Jubel in der Ferrari-Garage schlagartig verstummt, in Sekundenbruchteilen kommt die Fassungslosigkeit. Trauer. Tränen. Wut.

Kollektive Fassungslosigkeit

Ein Mechaniker kann nicht an sich halten, zertrümmert mit der Faust ein rotes Leuchtschild. Papa Massa steht die Ungläubigkeit ins Gesicht geschrieben. Mehr als 100.000 Fans an der Strecke bleibt der Jubel im Hals stecken. Gleichzeitig hüpft Hamiltons damalige Freundin Nicole Scherzinger unaufhörlich auf und ab, kreischt und jubelt.

Glock hat lange gebraucht, um die Erlebnisse hinter sich zu lassen.
Den Shitstorm. Die Wut. Den ganzen Frust. Ja, auch den geballten Hass, der sich auf ihn fokussierte. Den Formel-1-Fans an ihm ausließen.

Dass er mit seinen Slicks im Regen von Interlagos gegen Hamilton mit Intermediates völlig chancenlos war – das interessierte schon damals keinen Massa-Fan oder Verschwörungstheoretiker. Glock «feiert» dieses Jubiläum inzwischen mit einem Augenzwinkern, Jahr für Jahr geht es auf Twitter rund. Der DTM-Pilot wird noch heute für diese für Massa so tragische letzte Runde, die letzten Meter angegangen. Ob nun am «Jahrestag» selbst oder eben wenn der Brasilien-GP vor der Tür steht, so wie jetzt.

Wie er mal verriet, sind es bis zu 150 Tweets, die zu dem Thema die Runde machen. Doch so lustig, wie es sich heute anhört, war es damals nicht.

Das fing auf der Strecke an, als fünf Runden vor Schluss bei diesem Rennen voller Wetter-Kapriolen erneut langsam der Regen kam.

Sein Toyota-Team ließ ihn draußen, während der Rest des Feldes auf Intermediates ging. Seine kurz vor Ende wiederholte Bitte, die Reifen zu wechseln, wurde erneut abgelehnt. «Die Antwort war: ‚Nein, du kannst nicht reinkommen. Die Boxengasse ist blockiert, weil schon Zäune für die Podiumszeremonie aufgestellt werden und Menschen durch die Boxengasse laufen‘», erinnert sich Glock.

Wie auf Eis

Die Reifen kühlten nun massiv ab, die Temperaturen gingen in den Keller. Der Grip war weg, das Wasser stand teilweise auf der Strecke. Es war wie auf Eis. Ein Kampf. Glock: «Zu jener Zeit waren die Bridgestone-Reifen extrem anfällig für Temperatur-Schwankungen. Ich glaube, ich war in dieser Runde 40 oder 45 Sekunden langsamer. Ich habe nur noch versucht, irgendwie auf der Strecke zu bleiben. Es ging nur noch darum, keine Fehler zu machen.»

Die Entscheidung war strategisch richtig, weil Glock am Ende zwei Plätze gut machte. Doch dass er die Titelentscheidung mit beeinflusst hatte, wusste er da noch nicht.

Bis plötzlich alles auf ihn einprasselte.

Glock: «Mir wurden all diese Geschichten erzählt, dass ich Hamilton geholfen hätte, dass das bereits vor dem Rennen so geplant gewesen sei, oder wieviel Geld ich von Mercedes bekommen hätte, um ihn vorbei zu lassen. Die Situation an diesem Sonntag war so verrückt. Ich war erst einmal völlig baff, weil ich nicht verstehen konnte, dass Leute mir Vorwürfe machten.»

Glock überlegte, ob vielleicht er einen Fehler gemacht hatte. Er erlebte, wie schnell eine Geschichte konstruiert werden kann, wie schnell Stimmungen und Emotionen dafür sorgen, dass der Blick vernebelt, das große Ganze nicht mehr gesehen und stattdessen Jemand zu Unrecht beschuldigt wird.

Er hatte den Showdown erst ermöglicht

«Ich war wirklich erstaunt, dass solche Dinge im Sport passieren können und plötzlich jeder mit dem Finger auf dich zeigt», so Glock. Er hatte mit dem Taktik-Kniff, nicht zum Reifenwechsel zu kommen, überhaupt erst ermöglicht, dass Massa 39 Sekunden lang Weltmeister war.

Glock: «Wären wir nämlich auch zum Reifenwechsel gekommen, dann wäre Lewis die ganze Zeit problemlos auf Platz fünf gewesen. Das zeigt auch sehr schön, dass Leute einfach nur diesen einen Moment gesehen haben und die Chance nutzten, jemanden beschuldigen zu können, ohne zu verstehen, wie es zu dieser Situation gekommen war. Und dass es ohne uns niemals dieses dramatische Finale um den Titel gegeben hätte.»

Doch das war in Interlagos, beim Massa-Heimspiel, so ziemlich allen Fans an der Strecke egal. Das Volk tobte.

«Mein ganzes Toyota-Team hatte noch an der Strecke einen Shitstorm abbekommen. Sie wurden von Gästen und brasilianischen Fans aus dem Paddock Club bespuckt und mussten sogar ihre Teamkleidung wechseln. Am Ende liefen sie sogar mit Renault-Shirts rum», so Glock.

Mit der Polizei zum Flughafen

Er wurde am Montag nach dem Rennen mit einer Polizei-Eskorte zum Flughafen und bis ins Flugzeug gebracht. Im Flieger die persönliche «Krönung»: Das ganze Mercedes-Team im Feiermodus, direkt neben Glock saß Norbert Haug. Medial unbemerkt glücklicherweise. Ein Foto der Beiden hätte für noch mehr Zündstoff gesorgt. Dabei gab es davon genug.

Denn zu Hause ging es weiter. Facebook. Der nächste Shitstorm. Selbst deutsche Fans haben ihm üble Sachen an den Kopf geworfen. Erst nach ein paar Wochen hatte sich alles wieder ein bisschen beruhigt. Bei Glock ging es nicht so schnell. «Es war nicht leicht zu verstehen, warum das alles passiert ist und Menschen so reagiert haben. Insgesamt war es eine absolute irre Situation. Es hat lang gedauert, bis ich das hinter mir lassen konnte.»

Was gut ist, denn auch in diesem Jahr geht der Shitstorm weiter. Wenn auch nicht mehr so wild wie vor elf Jahren.

Und das alles nur wegen läppischer 39 Sekunden.

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