Formel 1: Günther Steiner rechnet ab

Düsteres Szenario: 2020 überhaupt kein GP-Sport

Von Günther Wiesinger
Formel-1-Weltmeister Lewis Hamilton mit Carmelo Ezpeleta

Formel-1-Weltmeister Lewis Hamilton mit Carmelo Ezpeleta

​F1-CEO Chase Carey sprach von «einer Saison aus 15 bis 18 GP». Das ist reines Wunschdenken. Carmelo Ezpeleta, CEO von MotoGP-Promoter Dorna, warnt: «Wenn wir Pech haben, werden alle Rennen abgesagt.»

Dorna-CEO Carmelo Ezpeleta macht sich im Exklusiv-Interview mit SPEEDWEEK.com keine Illusionen mehr. Der Spanier redet Klartext: Die Motorrad-GP-Saison 2020 muss eventuell abgesagt werden.

Spätestens seit vorgestern der österreichische Bundeskanzler Sebastian Kurz öffentlich erklärt hat, dass in Österreich und im restlichen Europa keine Reisefreiheit geben werde, solange keine wirksamen Impfstoffe oder Therapien gegen Covid-19 vorhanden seien, ist in punkto Motorsport für die Saison 2020 mit dem Schlimmsten zu rechnen. Denn bis ein Impfstoff alle drei vorgeschriebenen Phasen durchlaufen hat, dauert es 12 bis 18 Monate. Bis zur Zulassung werden Qualität (gibt es Nebenwirkungen?), Sicherheit und Wirksamkeit geprüft. Bis dahin ist diese Motorsportsaison gelaufen.

SPEEDWEEK.com unterhielt sich exklusiv mit Carmelo Ezpeleta, dem Chief Executive Officer von Dorna Sports S.L. Die spanische Sportmarketing-Agentur beschäftigt 450 Mitarbeitende und besitzt seit 1992 die kommerziellen Rechte für den GP-Sport und seit 2012 auch für die Superbike-WM. Die GP-Rechte laufen laut FIM-Vertrag bis 2041, die SBK-Rechte bis 2036.

Während Ezpeleta bisher allen Teams, Fahrern, Sponsoren, Veranstaltern und Fans immer wieder Hoffnungen machte, spricht er jetzt erstmals Klartext. «Wir befinden uns im Krieg», stellte der 72-jährige Spanier fest. «Es ist vorstellbar, dass 2020 keine Motorrad-WM stattfinden kann.»

Das steht im krassen Gegensatz zu den Aussagen von Formel-1-CEO Chase Carey. Der Amerikaner hat am 23. März erklärt: «Wir sind entschlossen, unseren Fans eine WM-Saison 2020 zu bieten. Wir erwarten einen überarbeiteten Kalender aus 15 bis 18 Formel-1-Rennen.»

Doch seither hat sich der Virus SARS-CoV-2 weltweit so explosiv verbreitet, dass die Durchführung von 18 Formel-1-Grand Prix reines Wunschdenken geworden sind.

Carmelo Ezpeleta sagt: «In Spanien ist die Situation sehr schlimm, in Italien und Frankreich auch. Bevor wir keine Impfstoffe haben, um die Ausbreitung des Coronavirus zu stoppen, wird es sehr schwierig oder gar unmöglich sein, Grands Prix und andere Großveranstaltungen zu organisieren.»

«Selbst wenn sich das Leben wieder ein bisschen normalisieren sollte, werden die Reiseverbote in allen Ländern aufrecht bleiben», st sich Ezpeleta bewusst. «Wenn es nicht so wäre, wären sie verrückt. Es wird also nicht gehen, dass eine große Anzahl von Menschen ein Fussballmatch live miterlebt, einen MotoGP-Event oder sonst eine Großveranstaltung besucht.»

«Ich bin nicht sehr zuversichtlich, dass wir die Möglichkeit haben werden, die GP-Saison 2020 durchzuführen. Auch wenn wir weiter emsig daran arbeiten. Wir fassen alle erdenklichen Lösungen ins Auge», ergänzte der Spanier. Und was er sagt, trifft 1:1 auch für die Formel 1 zu. Niemand kann sich momentan vortsleln, dass die Mitglieder der sieben britischen F1-Teams im Sommer wieder irgendwo hinreisen dürfen. 

Ezpeleta: «Ehrlich gesagt: Es würde mich überraschen, wenn es möglich wäre, in diesem Jahr Motorsport-Rennen zu veranstalten. Wir müssen jetzt die nächsten Entwicklungen abwarten.»

Im Reglement der Formel-1-WM finden wir einen Passus, der besagt: Eine Weltmeisterschaft muss aus acht Rennen bestehen. In der MotoGP besteht ein Vertrag zwischen der Dorna und dem Motorrad-Weltverband FIM, in dem von mindestens 13 Grand Prix die Rede ist.

Carmelo Ezpeleta: «Dieser Vertrag ist kein Problem, denn es gibt eine ‚Force Majeure’-Klausel. Bei höherer Gewalt können wir die Anzahl der Grand Prix reduzieren. Wenn wir weniger Rennen haben, macht mir das keine Sorgen. Wir können trotzdem Weltmeister küren.»

«Wenn wir die Möglichkeit bekommen, die WM neu zu starten, werden wir das machen. Es spielt dann keine Rolle, wie viele Rennen wir noch zustande bringen.»

«Wir haben noch mehr als fünf Monate Zeit bis September. Wenn wir im September beginnen könnten, ließen sich noch mehr als vier oder fünf Grand Prix abwickeln. Wir könnten dann den Kalender noch einmal komplett auf den Kopf stellen. Vielleicht können wir ein paar Rennen in Europa durchführen und dann nach Asien reisen, wenn dort bis dahin die Reiseverbote gelockert werden», grübelt der Dorna-CEO. «Sobald wir ein grünes Licht erblicken, können wir reagieren und alles tun, was uns ermöglicht wird. Jedes Rennen, das wir in dieser Saison zustande bringen können, werden wir organisieren. Wir werden uns auch mit ganz außergewöhnlichen Umständen abfinden.»

«Wichtig ist aber, dass die Sicherheit und die Gesundheit aller Beteiligten gewährleistet ist. Wenn sich bei einem unserer Events jemand infiziert, dann wird man uns das ewig vorwerfen.»

«Wir können auch überleben, wenn wir die Saison 2020 komplett streichen müssen. Wenn wir dieses ‚worst case’-Szenario akzeptieren müssen, werden wir uns rechtzeitig und gewissenhaft auf die Saison 2021 vorbereiten. Im Moment hat auch Vorrang, dass wir den Teams helfen, das Jahr 2020 finanziell zu überleben. Wir bezahlen monatlich Geld aus, auch wenn kein einziges Rennen stattfindet.»

Dieses System muss jetzt auch in der Formel 1 dringend Anwendung finden. Liberty Media muss die Tresore öffnen. Denn McLaren-Chef Zak Brown stellte unmissverständlich fest: «Mindestens vier private Formel-1Teams in in ihrer Existenz bedroht.»

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