Formel 1: Günther Steiner rechnet ab

Helmut Marko (Red Bull): «Rückstand nicht aufzuholen»

Von Günther Wiesinger
Nach dem Australien-Debakel spricht Red-Bull-Motorsport-Berater Dr. Helmut Marko Klartext. Er macht sich keine Illusionen. «Der Rückstand zu Mercedes ist nicht aufzuholen», meint er.

Ein Desaster. Anders lässt sich die Darbietung von Red Bull Racing und Renault beim Saisonauftakt in Melbourne nicht beschreiben.

Der von Dr. Helmut Marko und Christian Horner geführte Rennstall hatte seine Ziele für die Formel-1-Saison ohnedies bereits zurückgeschraubt. Vom Weltmeistertitel sprach angesichts der Mercedes-Überlegenheit niemand mehr. «Wir trauen uns aber zu, auch 2015 um den zweiten Platz in der Konstrukteurs-Weltmeisterschaft zu fighten», erklärte Dietrich Mateschitz vor dem Saisonauftakt in Melbourne.

Aber es lagen sogar Ferrari und Williams ausser Reichweite. Denn bei Daniel Ricciardo ging schon am Freitag ein Motor kaputt, sein Teamkollege Daniil Kvyat blieb schon in der Einführungsrunde liegen. Daniel Ricciardo wurde im Rennen Sechster – aber überrundet. Max Verstappen im Toro Rosso fiel aus, Teamkollege Carlos Sainz junior wurde Neunter. Ein Lichtblick.

Jetzt ?ist das Verhältnis zu Motorenlieferant Renault extrem angespannt, die Schuldzuweisungen werden lauter. «Es geht drunter und drüber», ?räumte Dietrich Mateschitz am Wochenbeginn ein.

Aber die Vermutungen, Red Bull werde einen eigenen Formel-1-Motor entwickeln, sind auch heute noch völlig unrealistisch. «Wenn ich in den Wald gehe und dort ein Hufeisen finde, kaufe ich mir ja deswegen auch kein Pferd», lautet die deutliche Antwort von Dietrich Mateschitz zu diesem Thema.

Red Bull-?Motorsportberater Dr. Helmut Marko macht die aktuelle Situation in der Formel 1 Sorgen. Er klagt über das Reglement und bedauert den allgemeinen Rückgang des Interesses an der Formel 1.

Bei RTL schauten 2014 im Schnitt nur noch 4,36 Mio Zuschauer pro Rennen zu, rund 1 Mio weniger als 2013. In den besten Jahren waren es 8 bis 12 Millionen. Beim Auftaktrennen 2015 in Australien ?sassen bei RTL sogar nur 1,72 Millionen Zuseher vor den Bildschirmen. Vor einem Jahr waren es mehr als 3 Millionen. Zwölf Mercedes-Doppelsiege in zwölf Monaten, da geht die Spannung verloren, das komplizierte Reglement verärgert so manchen Fan.

Bei solchen Quoten stellte sich nicht nur für einen Weltkonzern wie Red Bull die Frage der Sinnhaftigkeit.

Dr. Helmut Marko ist enttäuscht und ?verärgert. Im Gespräch mit SPEEDWEEK.com erklärt der ehemalige Formel-1-Pilot ausführlich, wie es zu diesem Dilemma kam und wie die mittelfristige Zukunft aussieht.

?Renault-Sportchef Cyril Abiteboul hat gestern gesagt, man sei von Red Bull nach den Testfahrten zu grausamen Weiterentwicklungen gedrängt worden, man habe sie aus Zeitmangel nicht auf dem Prüfstand testen können, das sei die Erklärung für das Debakel von Melbourne. Wie ist die schwache Performance von Melbourne zu erklären?

Wir müssen für diese Erklärung einen Schritt zurückgehen. Die PS-Zahl und die Fahrbarkeit des Motors waren beim letzten ?Wintertest in Barcelona deutlich besser als beim Rennen in Melbourne.
?Bis zu einem gewissen Grad stimmt es vielleicht, was Renault sagt. Wir sind gewöhnt, Druck zu machen und Probleme in schnellstmöglicher Art zu lösen. Und das, was Renault zwischen diesem Test und Melbourne liefern wollte, hat nicht funktioniert. Aus welchen Gründen auch immer. ?Da gibt es sicher einen Zusammenhang zwischen den Simulationen auf den Prüfständen von Renault in Viry-Châtillon und dem, was sich auf der Strecke abspielt. Wir sind in Australien gezwungen worden, mit einem Mapping zu fahren, das die PS-Leistung reduziert hat, damit der Motor hält. Und die Fahrbarkeit oder «Driveability» war eben nicht gegeben.
So etwas kann passieren, sollte aber nicht passieren.

Cyril Abiteboul sagte, man habe gemeinsam gewonnen, jetzt verliere man gemeinsam. Renault baue seit 37 Jahren Formel-1-Motoren, man wisse, was zu tun sei.

Ich gebe ihm Recht. Wir gewinnen zusammen, wir verlieren zusammen. Aber wir müssen auch zusammen daran arbeiten, dass es Fortschritte gibt.

Erschütternd war, dass ein Motor bei Ricciardo bereits am Freitag kaputt gegangen ist. Das ist ein extremer Rückschlag, weil nur vier Triebwerke für die ganze Saison erlaubt sind. Muss RBR jetzt mit drei Motoren auskommen?

Nein, wir werden irgendwann eine Zurückversetzung auf dem Startfeld erleben. Damit nicht genug, auch der Kvyat-Motor ist defekt. Wie weit er defekt ist, wissen wir noch nicht. Wenn bei Ricciardo oder Kvyat das ganze Power-Unit gewechselt werden muss, heisst das: Zurück ans Ende der Startaufstellung. Wenn nur der Verbrennungsmotor defekt ist, verlieren wir zehn Startplätze. Jetzt wird in Viry-Châtillon ermittelt, wie gross die Beschädigungen sind.

Wie viele Token, also Wertmarken, hat Renault noch übrig, um die Antriebseinheit für 2015 weiterzuentwickeln?

Ach, vergiss die Token. Wir müssen zuerst einmal schauen, dass ?das jetzt vorhandene Material zum Optimum genützt werden kann. Wenn diese Vorhaben einmal alle gelöst sind, können wir schauen, wie die Weiterentwicklung geht. Das geht natürlich nur im Rahmen der Token. Und das ist die Krux dieses ganzen Power-Unit-Problems, dass man eine Einfrierung der Entwicklung beschlossen hat. Jemand, der sich bei der Vorbereitung des Konzepts einen Rückstand eingehandelt hat, hat keine Chance, diesen Rückstand jemals aufzuholen.

Warum lassen sich die Werke, Teams und Sponsoren bei diesen wichtigen Fragen von der FIA solche Vorschriften machen, die sich dann als kontraproduktiv erweisen? Bis 2013 war es doch immer so, dass die Motorenhersteller Zugeständnisse bekamen, wenn sie PS-Mängel hatten.

Wir haben ein Mitspracherecht. Aber für schnelle Änderungen ist Einstimmigkeit nötig, und Änderungen für 2017 verlangen Mehrheitsbeschlüsse, also mindestens 51 Prozent. Mercedes rüstet vier Teams aus, sie sind also am stärksten vertreten, so sind gegen Mercedes keine Mehrheitsbeschlüsse erzielbar. Und Mercedes wehrt sich begreiflicherweise gegen jegliche Änderung.
Die Honda-Leute glauben, dass sie ihr Power-Unit gemeinsam mit McLaren trotzdem hinkriegen.
Wir bei Red Bull glauben nicht, dass dieses Power-Unit mit diesen Restriktionen in dieser Form jemals andere Hersteller an Mercedes heranführen wird.
Die alarmierenden Rückgänge bei den TV-Quoten bei RTL und beim gesamten Medieninteresse sollten aber die Beteiligten hellhörig machen. Dabei hat RTL den Rosberg bei Mercedes, Vettel bei Ferrari.

Dr. Peter Schöggl von AVL sagt, man habe jetzt herausgefunden, warum der Antriebsstrang von Mercedes so überlegen ist.

Mercedes hat mit dem grössten Aufwand und mit dem besten Know-how rechtzeitig zu arbeiten begonnen. Sie haben den besten Verbrennungs-Motor, sie haben das beste MGU-H (motor generator unit heat) und MGU-K (motor generator unit kinetic). Und sie haben die Software optimiert.
Nur um zu veranschaulichen, wie man dort hinkommt: Sie haben zum Beispiel 22.000 verschiedene Schaufelräder für Turbolader durchprobiert, bis sie zur jetzigen Form gekommen sind.
Das ist ein riesiger finanzieller Aufwand, und durch die Einfrierung der Entwicklung kannst du das nie mehr aufholen.
Die Formel 1 ist heute bei den Motoren eine Ingenieurs-Formel. Und der Motor ist der Differentiator, er macht den Unterschied aus. Wenn du diesen Mercedes-Motor nicht hast, hast du im Moment keine Chance.
Jetzt heisst es immer, wir bei Red Bull jammern und sind schlechte Verlierer.
Aber als wir gewonnen haben, mussten unsere Flügel plötzlich von einem Rennen zum anderen statt 50 kg Belastung 100 kg Belastung aushalten. Aber ?immerhin konnte innerhalb des Reglements jeder machen, was er wollte.
Jetzt hingegen kann niemand etwas machen, weil das Reglement durch diese Einschränkungen nichts erlaubt.
Und ich kann mir nicht vorstellen, dass Honda da mittelfristig zur Spitze aufschliesst. Die Ferrari-Performance muss man auch in ?Relation sehen. Sie sind nicht näher herangekommen, sie sind nur besser als im Vorjahr. Mercedes hat einen grösseren Schritt voran gemacht. Unsere Performance war in Australien nicht repräsentativ, weil Renault aufgrund der Software-Probleme nicht an das Potenzial des Autos herangehen konnte.
Und wir bei Red Bull Racing konnten aufgrund der Probleme nicht genug Runden fahren. Ricciardo konnte in Australien nur zwei von drei Trainings bestreiten aufgrund des Motorschadens, insgesamt waren das nur 15 Runden. Deshalb war unsere Abstimmung meilenweit vom Optimum entfernt und davon, was möglich ist.
Als Ricciardo im Rennen Reifen gewechselt hat, hat es bei uns drei oder vier Runden gedauert, bis die Reifen auf Temperatur gekommen sind. In dieser Phase haben wir pro Runde zwischen 2 und 3 Sekunden verloren.

Toro Rosso war nahe dran an der Leistung von Red Bull Racing. Kann es sein, dass Neweys 2015er-Auto nicht sein bester Wurf ist?

Nein, wir sind nicht zum Fahren und Abstimmen gekommen. Kvyat ist ja auch nicht genug zum Fahren gekommen.
In Melbourne war es punkto Fahrbarkeit des Motors so, dass wir uns in kleinen Schritten von «fürchterlich» auf «besser» durchgearbeitet haben.
Toro Rosso ist sicher die dreifache Rundenanzahl von uns gefahren. Deshalb haben sie die Möglichkeiten gehabt, das Mapping zu verbessern.

Toro Rosso hatte motorenmässig denselben Stand wie Red Bull Racing?

Ja, sie haben mit demselben Stand begonnen wie wir. Sie haben sich aber durch die höhere Anzahl der gefahrenen Runden beim Mapping verbessern können.
Wir mussten bei Ricciardo am Freitag einen neuen Motor einbauen und haben dann bei der Abstimmung wieder bei Null begonnen. Auf der anderen Seite hat Toro Rosso einen immens hohen Benzinverbrauch gehabt, den wir nicht gehabt haben. Deshalb sind sie etwas zurückgefallen.
Ich wiederhole: Das ganze Melbourne-Wochenende war nicht repräsentativ.
Wir müssen jetzt um eine Gemütsberuhigung mit unseren französischen Freunden bemüht sein.

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