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Streckensperrungen: Referenzwert statt Grenzwert

Von Rolf Lüthi
Tirol: In einer unausgegorenen Schnellschuss-Aktion wurde der als Referenzwert dienende Standgeräuschpegel zum Grenzwert erklärt

Tirol: In einer unausgegorenen Schnellschuss-Aktion wurde der als Referenzwert dienende Standgeräuschpegel zum Grenzwert erklärt

Das Land Tirol erhebt einen für die Typengenehmigung unerheblichen Referenzwert zum Grenzwert, um Fahrverbote für bestimmte Motorradmodelle zu verhängen – welche auch die österreichische Polizei fährt.

Lärmgrenzwerte für Motorräder gibt es in Deutschland seit 1938. Deren stufenweise Verschärfungen wie auch die zahlreichen Änderungen bezüglich Masseinheiten und Messverfahren lückenlos hier aufzulisten, würde den Rahmen dieser Berichterstattung bei weitem sprechen.

Die letzte Verschärfung der Geräuschnormen erfolgte mit Einführung von Euro 4 auf 2017, die Zulassungsnorm Euro 5, eingeführt für neue Typengenehmigungen auf 2020, brachte nurmehr eine Verschärfung beim Abgas.

In der jüngeren Geschichte dieser Grenzwerte, ab Richtlinie 78/1015/EWG vom 23. November 1978, war zur Erlangung der Typengenehmigung immer ausschliesslich ein Grenzwert massgebend, der in einer Vorbeifahrtsmessung (heute der Durchschnitt von zwei Vorbeifahrtsmessungen) ermittelt wurde. Bis heute ist das so.

Der in den deutschen und österreichischen Fahrzeugpapieren angegebene Wert für die Standmessung ist ein für die Zulassung irrelevanter Referenzwert. Er wird ermittelt, nachdem dem Motorrad die Typengenehmigung erteilt wurde. Die Angabe dient nur dazu, um in einer unkomplizierten Standmessung zu überprüfen, ob das Motorrad den Zulassungsvorschriften entsprechen könnte.

Die Polizei, die den Auftrag hat, auffällige Fahrzeuge zu überprüfen und gegebenenfalls aus dem Verkehr zu ziehen, kann mit einer verhältnismässig einfach durchzuführenden Standmessung grob manipulierte Fahrzeuge nachweisen und die entsprechenden Massnahmen ergreifen. Dabei gilt eine Toleranz von 5 dB (A).

Hört sich einfach an, doch schon wird es kompliziert: Das Standgeräusch wird bei Motorrädern mit einer Nenndrehzahl unter 5000/min bei drei Vierteln dieser Nenndrehzahl gemessen. Mit Nenndrehzahl bezeichnet man jene Drehzahl, bei welcher der Motor seine Höchstleistung abgibt. Eine so tiefe Nenndrehzahl weisen etwa auf A2-Leistung (48 PS) gedrosselte Cruiser oder ältere Einzylindermaschinen auf. Ist die Nenndrehzahl höher als 5000/min, wird das Standgeräusch bei halber Nenndrehzahl ermittelt.

Seit dem 1. Mai 1981 wird das Standgeräusch im Abstand von einem halben Meter und 45 Grad zur Auspufföffnung gemessen, zuvor wurde das Messgerät 7 m entfernt aufgestellt. Im Fahrzeugschein ist dieser Unterschied mit dem Buchstaben P (für Proximity, Nahfeldmessung 50 cm) oder N gekennzeichnet. Die Werte vor und nach 1981 sind also nicht vergleichbar.

Nun wird dieser Referenzwert im Tirol plötzlich massggebend: Motorräder mit einem eingetragenen Standgeräusch bis 95 dB(A) dürfen weiterhin ohne Einschränkung unterwegs sein, solche mit höheren Werten im Fahrzeugschein dürfen bestimmte Strecken bis am 31. Oktober nicht mehr befahren. Dabei wird die bei der Standmessung gewährte Toleranz von 5 dB (A) im Falle der Fahrverbote im Tirol nicht gewährt.

Noch komplizierter wird es für Schweizer Motorradfahrer. Im Schweizer Fahrzeugausweis sind keine Geräuschwerte eingetragen. Das Resultat der Standmessung und bei einigen Motorrädern auch die Werte der Vorbeifahrtsmessungen sind jedoch auf der Typenplakete zu finden, die meist beim Lenkkopf angebracht ist.

An älteren Motorrädern ist jedoch auf dem Typenschild keine Angabe zu einem Geräuschwert vermerkt. Auf Anfrage gab Dr. Bernhard Knapp, Vorstand der Abteilung Verkehrsrecht beim Amt der Tiroler Landesregierung, den betroffenen Schweizer Motorradfahrern schriftlich folgenden Rat (Zitat): «Das Standgeräusch können Sie dem CH-Ausweis nicht entnehmen (so wie auch z.B. zugelassenen Reifendimensionen, etc.), aber aus dem zugehörigen COC Papier (EU-Zulassung). Diese sollte auch in CH beim Kauf mit dabei sein, und enthält alle technischen Daten, nicht nur die geringen Grunddaten, welche im CH-Ausweis enthalten sind. Weiters finden Sie das Standgeräusch auf Ihrem Typenschild am Motorrad. Sie schildern, dass auf Ihrem Typenschild nichts vermerkt ist. In diesem Fall würde ich Ihnen empfehlen, bei einer technischen Prüfstelle die Messung des Standgeräusches zu veranlassen und dies im Fahrzeugdokument eintragen zu lassen. Sollten Sie trotzdem die vom Verbot umfassten Strecken befahren, so könnten Sie im Zuge einer mobilen Lärmkontrolle durch die Polizei strafbar werden.»

Damit kann man nun wirklich nichts anfangen. Ein COC-Dokument gibt oder gab es, wenn überhaupt, nur beim Kauf einer Maschine nach EU-Norm. Und Euronormen für Motorräder gibt es erst seit 1998. Wir haben die zitierte Empfehlung dem Schweizer Bundesamt für Strassen weitergeleitet mit Bitte um eine Stellungnahme. Wir werden die SPEEDWEEK-Leser auf dem Laufenden halten.

Generell ist es nach unserer Einschätzung juristisch anfechtbar oder zumindest fragwürdig, einen für die Zulassung unerheblichen Referenzwert plötzlich zum Grenzwert zu erklären, noch dazu ohne jede Toleranz. Das heisst nun umgekehrt nicht, dass es für uns in Ordnung ist, dass einzelne oder eben doch mehrere Motorradfahrer mit manipulierten Auspuffen und knallenden Quickshiftern ihre Anwesenheit in die Welt hinausbrüllen.

Die leider unvollständige Anekdote zum Schluss: Unter das Motorradtypen-spezifische Tiroler Fahrverbot fällt mit einem Standgeräusch von 102 dB (A) auch die Ducati Multistrada 1260. Dieses Motorrad wird auch von der österreichischen Polizei eingesetzt, allerdings nicht im Land Tirol. Schade, wäre eine pikante Anekdote gewesen!

Dafür hat uns ein Leser auf eine andere Merkwürdigkeit hingewiesen: Bestimmte Harley-Typen mit 1340er Motor leisten 54 PS bei 5200/min. Die Standgeräuschmessung bei 2600/min ergibt 95 dB (A). Alles bestens, gute Fahrt übers Hahntennjoch! Das gleiche Motorrad in A2-Version leistet 48 PS bei 4800/min. Standgeräusch bei 3600/min 99 dB (A). Übers Hahntennjoch darf man damit nicht.

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