History: Verrückter Pfarrer auf der Silverstone-Piste
Singapur 2015 war der bislang letzte Fall, bei dem sich ein Fan auf die Rennstrecke verirrt hat. Das hohe Sicherheitsniveau an den GP-Pisten macht das Vordringen bis zur Rennstrecke fast unmöglich. Das war nicht immer so. Jahrelang war eine Pisteninvasion der ganz normale Abschluss jedes Grossen Preises von Italien in Monza. Viele Tifosi nahmen es mit dem Fallen der Zielflagge auch nicht so genau.
Unvergessen der frühere Geistliche Cornelius «Neil» Horan, der im britischen Grand Prix 2003 auf die Silverstone-Strecke rannte, um auf die Worte des Herrn aufmerksam zu machen (auf seinem Schild stand: «Lest die Bibel. Die Bibel hat immer Recht»). Das Einzige, was wirklich nah war, war sein eigenes Ende: Der Jaguar von Mark Webber verpasste den irren Priester nur um Haaresbreite.
In seiner Autobiographie «Aussie Grit» schrieb Webber: «Es war das Unglaublichste, was ich je auf einer Rennstrecke gesehen habe. Mir war völlig einerlei, wofür der Kerl protestieren wollte – er brachte sich, mich und andere in Lebensgefahr. Es machte mich fuchsteufelswild, dass er das in Kauf nahm.»
Das Safety-Car musste auf die Bahn geschickt werden, um den Eindringling einzufangen. Held der Stunde war Streckenposten Stephen Green, der Horan mit einem gekonnten Ringergriff überwältigte. Horan wurde später für seine Aktion in Silverstone zu zwei Monaten Gefängnis verurteilt. Gelernt hatte er nichts: Bei den Olympischen Spielen 2004 in Athen attackierte er einen brasilianischen Marathonläufer und brachte den Athleten um dessen Chancen auf Gold.
Wegen verschiedener Vergehen stand Horan immer wieder vor Gericht und musste verschiedene Strafen absitzen oder Bussen bezahlen.
Bislang zum letzten Mal sahen wir Horan vor neun Jahren: Da trat er bei «Britain’s Got Talent» an, dem britischen Gegenstück der deutschen RTL-Sendung «Das Supertalent». Horan zeigte einen irischen Volkstanz.
Superstar wurde er nicht.
Ich erinnere mich an irre Szenen nach dem völlig unerwarteten Doppelsieg von Gerhard Berger und Michele Alboreto in Monza 1988, knapp drei Wochen nach dem Tod des grossen Enzo Ferrari.
Die Begeisterung war grenzenlos. Ich stand damals zum Schluss des Rennens in der Boxengasse, wie eine gewaltige Welle wogte der Jubel über alles hinweg, die entfesselten Menschen hatten die Rennbahn gestürmt, die Polizei riegelte blitzschnell die Hinterausgänge der Boxen ab, und es bedurfte stattlichen Schweizer Körpereinsatzes, um dem Chaos ins Fahrlerlager zu entfliehen.
Aber gegen den Wahnsinn von Mexiko 1970 war Monza 1988 reiner Kinderkram.
Wahnsinn in Mexiko 1970
Damals hiess die mexikanische Piste Magdalena Mixhuca, die Piste wurde erst nach dem Tod von Pedro Rodríguez in den 70er Jahren umbenannt. Zuvor hiess sie nach dem dortigen Park Magdalena Mixhuca, das wiederum geht zurück auf die Kirche Santa María Magdalena Mixhuca, die der heiligen Maria Magdalena gewidmet ist. Der Name Mixhuca bedeutete bei den Ureinwohnern so viel wie Geburtsort. Auch eine U-Bahnstation im heutigen Mexiko-Stadt heisst heute noch so.
Vermutlich wachte Maria Magdalena 1970 besonders aufmerksam über der Rennbahn. Denn 200.000 Fans wollten sich das Geschehen nicht entgehen lassen, und als viele von ihnen merkten, dass sie wohl nicht aufs Gelände kommen würden, trampelten sie kurzerhand die Zäune nieder und hockten sich zufrieden an den Rand der Rennstrecke ins Gras.
In der Rennleitung wurde erwogen, das Rennen platzen zu lassen. Aber die mexikanischen Organisatoren fürchteten Randale, wenn der Menge nichts geboten würde.
Einigen dauerte das alles sowieso schon viel zu lange. Also warfen sie Flaschen und dergleichen auf die Bahn.
Lokalheld Pedro Rodríguez und Weltmeister Jackie Stewart wurden auf die Bahn geschickt, um den Fans ins Gewissen zu reden. Wenn Stewart und ihr Idol Pedro vor ihnen standen, nickten die Fans, begaben sich brav hinter die Leitschienen, und sobald der Schotte und sein mexikanischer Rennfahrerkollege ausser Sicht waren, rückten sie wieder auf die Grasnarbe vor.
Nach weiterer Verspätung (wegen der Scherben auf der Bahn) wurde das Rennen freigegeben, und die mexikanischen Esel störte es nicht weiter, dass Autos mit 300 Sachen an ihnen vorbeibrausten.
Stewart überfuhr dann tatsächlich einen Pistenbesucher – einen streunenden Hund. «Es ging so schnell, dass ich nichts machen konnte.»
Inzwischen hatten die ersten Fans begonnen, die Piste zu überqueren. Sie fanden vermutlich, von der anderen Seite hätten sie wohl eine bessere Sicht. Als für Jacky Ickx vor Clay Regazzoni endlich die Zielflagge gefallen war, gab es kein Halten mehr, vor lauter Menschen war das Asphaltband nicht mehr zu erkennen. Einige Fahrzeuge blieben auf der Auslaufrunde in der Menge stecken.
Der Autoverband nahm zur Strafe das Rennen aus dem Kalender, erst 1986 wurde wieder in Mexiko ein WM-Lauf durchgeführt.
Phoenix 1991: Selbstmordversuch
Wir standen mitten in der Ära der Vorqualifikation. Damals war das Formel-1-Feld so reichhaltig, dass jeweils am Freitagmorgen aussortiert werden musste – acht Fahrer traten an, nur vier kamen weiter.
Aber das Training wurde nach wenigen Minuten mit der roten Flagge unterbrochen. Erst nach und nach sickerten Details über die ungewöhnliche Trainingsunterbrechung durch: Wie sich herausstellte, war der 27 Jahre alte Marlon Rauvelli aus den nahen Maricopa-Krankenhaus ausgebüchst, an Krücken zur Rennstrecke gehumpelt und auf den Strassenkurs vorgedrungen – in der Absicht, sich dort vom nächstbesten Formel-1-Auto überrollen zu lassen!
Lamborghini-Pilot Eric van de Poele erzählte: «Das waren damals meine ersten Runden überhaupt im Rahmen eines Formel-1-GP-Wochenendes. Und dann komme ich um eine der 90-Grad-Ecken und mitten auf der Strasse liegt ein Mann! Ich traute meinen Augen kaum.»
Van de Poele zischte zum Glück um Haaresbreite am Lebensmüden vorbei, der anschliessend von Sicherheitskräften aufgelesen und ins Krankenhaus zurückgebracht wurde.
Was aus Herrn Rauvelli geworden ist, wissen wir nicht, was aus dem Phoenix-GP wurde, schon: Das unbeliebte Rennen (1991 nur 18.500 zahlende Zuschauer!) verschwand aus dem WM-Kalender.
Erst im Jahre 2000 gab es wieder einen Formel-1-GP in den USA – in Indianapolis.
Mansellmania und Schumania
In den folgenden Jahren gab es auch in Silverstone und Hockenheim immer wieder Fans auf der Bahn: In ihrer Begeisterung für Nigel Mansell («Mansellmania») und Michael Schumacher («Schumania») überschritten die sonst so zurückhaltenden Briten jede Hemmschwelle, und auch bei den deutschen Schumacher-Fans gab es kein Halten mehr.
Kein Wunder, beim stattlichen Bierkonsum. Neben den Zelten wuchs von Tag zu Tag der Berg an Dosen und Flaschen, und als ich an einem Sonntagmorgen zwischen sechs oder sieben Uhr früh zum Ring fuhr, brach links waagrecht ein Mann aus dem Dickicht, nur mit einer Unterhose bekleidet, brüllte «SCHUMI!» und traf Anstalten, auf mein Auto zu klettern. Mit blossen Füssen war das gar nicht so einfach und so wankte der Bierzombi statt dessen wieder in den Wald zurück.
Ich schätze, vom Rennen wird er nicht viel mitbekommen haben.
Hockenheim 2000: Protest wegen Entlassung
Im Jahre 2000 drang der damals 47jährige Robert Sehli, ein ehemaliger Angestellter von Mercedes, auf die Hockenheim-Rennstrecke vor, er war entlang der ersten Waldgeraden auf den Grünstreifen neben der Bahn gelangt. Der Franzose wollte mit seiner Aktion gegen eine seiner Meinung nach ungerechtfertigte Entlassung protestieren – was auf einer weissen Pellerine stand, die er übergeworfen hatte.
Später kam heraus, dass er seine Aktion schon beim Frankreich-GP durchführen wollte, es dort aber nicht an den Sicherheitskräften vorbeigeschafft hatte.
Selhi erhielt später eine Busse von 200 D-Mark. Und von einem französischen Gericht eine Wiedergutmachung in Höhe von rund 12.000 Dollar – der Richter fand ebenfalls, dass Selhis Entlassung nicht korrekt war.
Shanghai 2015: Fan will Ferrari fahren
Gut eine Viertelstunde nach Beginn des zweiten freien Trainings zum Grossen Preis von China 2015 rannte ein schwarzgekleideter Mann, offenbar von der Haupttribüne kommend, quer über die Start/Ziel-Gerade, ungefähr auf Höhe der Ziellinie, und hechtete dann gekonnt über die Boxenmauer Richtung Ferrari-Garage.
Der Mann hatte sich auf der Rennstrecke eine Lücke zwischen dem vorbeigerasten Sauber von Felipe Nasr und dem nahenden Force India von Nico Hülkenberg ausgesucht.
Der Mann bewegte sich zielstrebig Richtung Ferrari-Box, wurde jedoch von Sicherheitskräften überwältigt, bevor er in den Bereich von Sebastian Vettel und Kimi Räikkönen eindringen konnte.
Augenzeugen zufolge hat der Mann auf Chinesisch geäussert, er wolle einen Formel-1-Renner fahren. Aktion und Aussage sprechen nicht für einen normalen Geisteszustand.
Bei Start und Ziel sind die GP-Renner jenseits von 250 km/h schnell. Unvorstellbar, wäre er von einem Formel-1-Auto an- oder überfahren worden. So etwas musste die Formel 1 1977 erleben, damals kamen in Kyalami (Südafrika) Shadow-Star Tom Pryce und der Streckenposten Frederik Janse Van Vuuren ums Leben.
Die chinesischen Organisatoren reagierten auf Anweisung der Rennleitung umgehend: Die Sicherheitskräfte, welche Zäune zwischen Tribünen und Rennstrecke überwachen, wurden verdoppelt. Bis heute haben die Organisatoren nicht enthüllt, in welcher Form der Mann bestraft worden ist.
Singapur 2015: Besoffener auf der Bahn
Im Singapur-GP 2015 meldete sich Ferrari-Star Sebastian Vettel über Funk: «Da ist ein Mann auf der Strecke!» Wenige Sekunden später zeigte das TV-Bild eine Person, die seelenruhig über die Bahn spazierte, nach wenigen Metern über eine Mauer sprang und wieder verschwand.
Kurz darauf wurde der Brite Yogvitam Pravin Dhokia verhaftet, im November 2015 wurde er zu sechs Wochen Gefängnis verurteilt, darüber hinaus musste er 2500 Singapur-Dollar Geldstrafe zahlen, umgerechnet rund 1600 Euro.
Dhokia hatte sich schuldig bekannt, mit seinem Ausflug auf die Rennstrecke während des Singapur-GP die fahrlässige Gefährdung von Leben in Kauf genommen zu haben. Dhokia wurde die Zeit in Untersuchungshaft angerechnet, so dass er noch vor Jahresende wieder auf freiem Fuss war und das Land verlassen konnte. Die ganze Aktion hatte er durchgeführt, um Videos von den vorbeifahrenden Boliden zu machen. Dazu trank er sich tüchtig Mut an.
Die Bilder haben es nicht auf YouTube geschafft.