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Vor 50 Jahren: Staatsaffäre um Sieg von Dieter Braun

Von Günther Wiesinger
1971: 250-ccm-Start mit Dieter Braun (3), neben ihm John Dodds und Phil Read (1)

1971: 250-ccm-Start mit Dieter Braun (3), neben ihm John Dodds und Phil Read (1)

Am heutigen 11. Juli ist es 50 Jahre her, dass für Dieter Braun beim «East German Grand Prix» auf dem Sachsenring vor 280.000 Zuschauern die westdeutsche Hymne gespielt wurde. Der heute 78-Jährige erinnert sich.

Es ist eine Situation, die sich heute niemand vorstellen kann. Trotzdem liegt dieser Anlass nur fünf Jahrzehnte zurück: Beim «East German Grand Prix» im damals seit 1945 geteilten Deutschland auf dem ostdeutschen Sachsenring bei Hohenstein-Ernstthal besiegte mit Dieter Braun ein Fahrer aus dem «feindlichen» kapitalistischen Westen die gesamte Motorrad-Weltelite.

Damit trat für die Obrigkeit dieser realsozialistischen Diktatur das «worst case»-Szenario ein. Es musste vor 280.000 Zuschauern die verpönte westdeutsche Hymne gespielt werden. Das verlangte das Reglement des Weltverbands FIM.

Yamaha-Privatfahrer Dieter Braun, er wurde dann 1973 auch 250-ccm-Weltmeister, gewann dieses spektakuläre Rennen gegen die Yamaha-Stars Rodney Gould und Phil Read – mit 0,5 Sekunden Vorsprung nach 15 Runden (= 129,210 km) auf dem 8,614 km langen Straßenkurs.

Aber die DDR-Politfunktionäre gaben sich nicht geschlagen. Der legendäre Sachsenring-Rennleiter Hans Zacharias wurde von den Polit-Aufpassern mit Nachdruck aufgefordert, Braun zu disqualifizieren – wegen Überfahrens der weißen Begrenzungslinie.

Hans Zacharias weigerte sich, er wurde deshalb nach diesem Event als Rennleiter abgesetzt.

Noch schlimmer: Der WM-Lauf in der DDR wurde nach der Saison 1972 aus dem Kalender gestrichen.

Das DDR-Regime machte offiziell die hohen Kosten und die erhöhten Sicherheitsanforderungen an der Strecke verantwortlich.

Aber auf ähnlichen Straßenkursen wie in Imatra, Opatija und Brünn wurde teilweise noch zehn oder zwölf Jahre länger gefahren.

Die Streichung des ostdeutschen WM-Laufs hatte andere Gründe, wie sich der heute 78-jährige Dieter Braun noch genau erinnert.

Es sollte dann bis 1998 dauern, ehe wieder ein Grand Prix in Ostdeutschland ausgetragen wurde – diesmal auf dem auf 3,5 km verkürzten, entschärften und modernisierten Sachsenring.

Dieter Braun gilt bei seinen heutigen Besuchen beim GP von Deutschland allgemein als Held, er wird verehrt, man bringt ihm Hochachtung entgegen.

Und wenn man sich an die Szenerie von 1971 zurückerinnert, läuft es jedem Beteiligten noch heute kalt über den Rücken.

Dieter Braun ging als 250-ccm-Sieger beim Großen Preis der DDR auf dem Sachsenring 1971 in die Geschichte ein. Rund eine Viertelmillion großteils ostdeutscher Zuschauer bejubelten seinen legendären Triumph; bei der Siegerehrung begannen die Fans die dritte Strophe des Liedes der Deutschen (die westdeutsche Nationalhymne) mitzusingen.

Die DDR-Regierung degradierte die Veranstaltung in den folgenden Jahren zu einem Einladungsrennen, es waren fast nur noch Fahrer aus sozialistischen Ländern willkommen.

Was noch interessant war: Die Zuschauer außerhalb der Lautsprecher-Bereiche wussten nicht, wer nun gewonnen hatte. Da die Abstände so knapp waren, konnte der Sprecher vor der Lautsprecherabschaltung nicht genau den Sieger durchsagen. «Da die auch keine Hymne zu hören war, haben viele Fans erst Tage später erfahren, dass Braun gewonnen hatte...

1971: Dieter Braun als unerwünschte Person

Das DDR-Regime tat schon vor dem Grand Prix 1971 alles, um Dieter Brauns Teilnahme zu verhindern. Aber der Yamaha-Pilot kämpfte in der 250er-WM unter den Top-5 mit – und wollte sich den Auftritt im kommunistischen Nachbarstaat nicht vermiesen lassen.

Die Szenerie nach dem Braun-GP-Triumph 1971 war gespenstisch.

«Die Aufpasser wussten seit 1969, dass die Gefahr eines Sieges von mir bestand», erinnert sich Dieter Braun im Gespräch mit SPEEDWEEK.com. «Sie hatten deshalb die Lautsprecheranlage so installiert, dass man im Notfall alle Lautsprecher rund um die Strecke abschalten konnte. Das verpönte Deutschland-Lied war dann nur bei Start-Ziel zu hören, weil hier der FIM-Steward stand und die FIM-Regularien verlangten, dass für jeden GP-Sieger die Landeshymne gespielt werden muss...»

Die «Volkspolizei» (VOPO) hat damals den ganzen Startplatz umstellt, um einen Tumult nach dem Rennen zu verhindern, viele Posten hatte scharfe Hunde an der Leine. «Die Massen haben echt getobt hinter dem Zaun», erinnert sich Augenzeuge und GP-Fotograf Fritz Glänzel. «Mir war es vorne wirklich nicht geheuer. Die Menschen auf der riesigen Tribüne waren am Toben.»

Wie gesagt: Ausgerechnet der Sieg eines Deutschen besiegelte das Aus für den Sachsenring-GP. So einen Eklat und so eine Demonstration überlegener Fahrkunst des kapitalistischen Klassenfeindes wollte die Stasi nicht noch einmal erleben.

«1971 Sachsenring, das war natürlich ein grandioses Ereignis», blickt Dieter Braun zurück. «Nach dem 125-ccm-Titelgewinn auf der Ex-Anscheidt-Suzuki in der Saison 1970 hat mich ein gewisser Toni Mang angerufen, er ist dann gemeinsam mit Sepp Schlögl mein Mechaniker geworden. Meine Rennmotorräder waren deshalb 1971 deutlich besser vorbereitet und präpariert, unter anderem ist die Sitzposition optimal angepasst worden auf meine 188 Zentimeter. Ich konnte deshalb auf der 250er-Yamaha vernünftig sitzen, sie lief gut und war konkurrenzfähig. Sepp und Toni waren eine tolle Ergänzung für mein GP-Team. Ich konnte mich dadurch auf dem Sachsenring gegen die gesamte Weltelite durchsetzen – gegen Read, Gould, Saarinen, Sheene und Mortimer. Meine Gegner waren bis zu einem gewissen Grad werksunterstützt. Mitsui England hatte einen viel besseren Kontakt zu Yamaha Japan als der deutsche Generalimporteur, der auch Mitsui hieß. Aber der Hauptsitz dieses Riesenkonzerns war in England, deshalb bin ich gegenüber Read und Co. ein bisschen nebenher gelaufen...»

«Aber ich habe trotzdem auf dem Sachsenring gewinnen können, es war mein erster 250-ccm-GP-Sieg. Man sieht auf den Fotos von der Siegerehrung, dass sogar Phil Read erstmals zu mir aufgeblickt hat», blickt Braun zurück.

Braun beteuert, der Versuch der ostdeutschen Obrigkeit, ihn wegen Überfahrens der weißen Begrenzungslinie zu disqualifizieren, habe ihn damals nicht aus der Fassung gebracht. «Das hätte ja den FIM-Vorschriften widersprochen. Die FIM-Regularien sagten damals, wenn du die weiße Linie innen überfährst, um abzukürzen und dir einen Vorteil zu verschaffen, kann man dich aus der Wertung rausnehmen. Aber ich habe dort den Berg runter nicht innen abgekürzt, das wäre gar nicht gegangen, sondern ich bin an einem Überrundeten außen vorbei gefahren. Die letzten eineinhalb Meter der Strecke waren natürlich mit Staub und Gummi und so weiter verdreckt. Es war dort rutschiger als auf der Ideallinie. Ich musste die Ideallinie wegen eines Nachzüglers verlassen. Ich habe wegen der dicht folgenden Gegner keine Zeit gehabt zu warten, bis die Kurve vorbei war... Deswegen bin ich in die rutschige Außenbahn gekommen. Das war eine heikle Situation, aber es hat mir geholfen, dass die Fahrbahn dort am unbefestigten Teil ein bisschen überhöht war. So konnte ich diesen Abschnitt als Anleger nehmen, die Maschine hat sich durch den Anleger und durch den Fahrtwind bei 240 km/h wieder stabilisiert. Für mich war das keine Schrecksekunde. Diese Aktion hat halt buchstäblich Staub aufgewirbelt... Die ostdeutschen Obrigkeiten haben kurz aufgeatmet und gedacht: ‚Jetzt ist er runtergeflogen.’ Der FIM-Steward hat mir nachher gleich versichert, dass kein Fahrer wegen Überfahrens der weißen Linie aus der Wertung gestrichen werden kann. Er hätte da nie zugestimmt.»

«Schon im Vorfeld des Grand Prix 1971 war ich bei den ostdeutschen Politikfunktionären der meistgehasste Teilnehmer», sagt Braun. «Erstens haben sie mir nur 600 Mark als Startgeld geboten. Ich habe zurückgeschrieben, dass das zu wenig und dieser Betrag nicht einmal kostendeckend sei. Immerhin war ich 1969 und 1970 schon Vizeweltmeister und Weltmeister in der 125-ccm-Klasse... Trotzdem haben sie jedem Nachzügler mehr Startgeld gegeben als mir. Man hat mir zurückgeschrieben, ich müsse ja gar nicht kommen. Ich solle daheim bleiben, wenn mir das Geld zu wenig ist. Ich bin trotzdem nach Sachsen zum Rennen gefahren und habe Rennleiter Zacharias von Angesicht zu Angesicht gefragt, aus welchem Grund man mir nur 600 Mark bietet, warum ich weniger kriege als jeder andere. Er wollte mir keinen Grund nennen und schlug vor, ich solle wieder nach Hause fahren. Das habe ich abgelehnt.»

Braun weiter: «Ich war auf dem Sachsenring schon in den zwei Jahren zuvor immer knapp am Gewinnen. 1969 bin ich mit der Suzuki 125 von der Pole-Position gestartet, ich bin in Führung gelegen, aber 150 Meter vor dem Ziel in der letzten Runde beim kurzen Anstieg ging meine Suzuki beim Anbremsen fest. Ich habe dann die Maschine noch ins Ziel geschoben – aber ich bekam keine Punkte mehr. Auf jeden Fall waren die Veranstalter gewarnt. Sie wussten, der Braun könnte eventuell gewinnen. Danach haben sie mich gleich gar nicht mehr wollen.»

Als dann 1971 mehr als 250.000 Zuschauer das Deutschland-Lied anstimmten, bekam auch der hartgesottene Dieter Braun Gänsehaut. «Das war brutal beeindruckend; das hat sogar Rodney Gould und Phil Read emotional mitgenommen. Das hat jeder mitgekriegt, diese Begeisterung der Fans, so etwas haben wir bei keinem anderen Grand Prix erlebt. Bs zu 280.000 Menschen haben sich gegenseitig aufgestachelt, um nach meinem Sieg noch eine Besonderheit zu bieten. Da ich schon 1969 auf dieser Strecke aufhorchen hab’ lassen, haben die Fans 1971 schon Plakate und Spruchbänder mitgebracht. Und da das Regime vorgewarnt war, dass ich als potenzieller Sieger gefährlich war, haben sie die Lautsprecheranlange so präpariert, dass die westdeutsche Hymne nur bei Start/Ziel vorgespielt wurde, wo sich der FIM-Steward befand. Rund um die restliche Rennstrecke wurde ein Defekt der Anlage vorgetäuscht. Wir haben dieses Manöver zuerst gar nicht mitgekriegt. Die Zuschauer haben aber die Hymne gesungen, ich habe ja schon an den Tagen zuvor 10.000 Mal gehört: 'Wir wollen das Liede singen'. Sie haben das Lied dann gesungen, das war natürlich auch nicht im Sinne des Erfinders... Das Ganze war im Grunde genommen Kinderkram, wenn es für die DDR-Bürger nicht so gefährlich gewesen wäre. Die sind ja an der Grenze erschossen worden, wenn sie davon laufen wollten.»

MZ 1961: Die Spionage-Affäre mit Ernst Degner

Die ostdeutsche Staatsmacht hatte schon 1961 eine schwerwiegende Schmach erlitten. Damals führte der DDR-Bürger und MZ-Werksfahrer Ernst Degner in der 125er-WM. Vor dem Schweden-GP in Kristanstad liess Degner, im Hauptberuf ein leidenschaftlicher Techniker, seine Frau und Kinder von einem westdeutschen Freund im doppelten Kofferraumboden eines Amischlittens von Osterberlin in den Westen schmuggeln.

Degner brach nach Schweden auf, als seine Familie in der Bundesrepublik in Sicherheit war. Beim Schweden-GP übergab er dem Suzuki-Teammanager Jimmy Matsumiya einen Koffer voll MZ-Teilen, er verkaufte damals quasi die von MZ-Ingenieur Walter Kaaden entwickelte Hochleistungs-Zweitakt-Technologie an den japanischen Suzuki-Konzern. Andere Quellen besagen, Degner habe sogar eine komplette, aus Ersatzteilen aufgebaute MZ 125 an Suzuki übergeben.

Als Gegenleistung bekam Degner, der in seiner Heimat lange als Verräter galt, einen Suzuki-Werksvertrag – und wurde 1962 auf Suzuki Weltmeister in der 50-ccm-Klasse.

Suzuki gewann fortan dank der überragenden MZ-Technologie in den kleinen Klassen (50 und 125 ccm) einen Zweitakt-WM-Titel nach dem andern, am Schluss ab 1976 mit Sheene, Lucchinelli, Uncini und Schwantz sogar in der 500-ccm-Klasse. Dem MZ-Werksteam wurden nach dieser Schmach und der Flucht von Degner die Auslandsreisen zu den Grand Prix vom Politbüro der Sozialistischen Einheits Partei (SED) untersagt.

Sachsenring-GP: Nach 1972 war Feierabend

Welche Erinnerung hat Dieter Braun an die Verbannung des DDR-GP nach der Saison 1972? Welche Gründe wurden dafür namhaft gemacht?

Wollte die Stasi einfach keinen westdeutschen Klassenfeind mehr als GP-Sieger erleben?

«Ja, aber es war auch deswegen, weil die westdeutschen Zuschauer mit anderen Autos erschienen sind, sie waren anders gekleidet, sie haben erzählt, dass sie auf Mallorca waren, das waren alles Störfaktoren für die ostdeutschen Obrigkeiten», meint Braun. «Das wollten sie dann nicht haben. Erich Honecker hat zwar seine private Insel gehabt. Aber er wollte nicht erlauben, dass sich das Volk neben dem Trabi sonst noch einen Luxus leistet...»

1971 und in den Jahren zuvor war allerdings noch SED-Chef Walter Ulbricht an der Macht, über den sich der unbequeme Dieter Braun auch einmal lustig machte, was ins Auge gehen hätte können.

Braun bricht noch heute in schallendes Lachen aus, wenn er darüber spricht. «Im so genannten Rennbüro auf dem Sachsenring musten wir Fahrer unsere Aufenthaltsgenehmigung abstempeln lassen, dann hast du dir die Legitimation für dein Hiersein beglaubigen lassen müssen. Dafür war kein Motorsportfunktionär zuständig, sondern irgendein Abgesandter vom Rathaus... Der hat uns dann zur nächsten Station geschickt, wo wir die Papiere und Karten für das Fahrerlager bekamen und die Zuweisungen für das Hotel, für das wir eingeteilt waren. Über dem ADMV-Funktionär, der die Ausweise verteilte, hing ein Porträt von Ulbricht an der Wand. Ich war damals zum ersten Mal drüben, ich war als Neckermann-Werksfahrer auf MZ am Start, Lothar John war mein Teamkollege. Wir waren zusammen in diesem Büro, und ich habe gesagt: 'Guck, Lothar, das ist auch ein schöner Brauch, die haben da von ihrem Rennleiter ein Porträt an der Wand hängen.' Danach herrschte eine Totenstille im Raum...»

Aber diese Majestätsbeleidigung blieb ohne Folgen. «Ich habe einfach so getan, als hätte ich nicht gewusst, dass es sich um den großen Staatsratsvorsitzenden handelt», spöttelt Dieter Braun. «Lothar hat dann zum Bild raufgeguckt und gesagt: 'Ja, so was könnt man bei uns auch machen.'»

Braun bricht wieder in Lachen aus. «Der Lothar hat sich ebenfalls unwissend gegeben und sich fast in die Hose gemacht vor Angst, dass er was Falsches sagt. Wir haben dann entschieden, dieses Gespräch nicht weiter zu vertiefen...»

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