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Kritik an Michelin – Rossi griff in die Trickkiste

Von Günther Wiesinger
Valentino Rossi musste tief in die Trickkiste greifen, um in Katar mit dem Hinterreifen über die 22 Runden zu kommen. Die Situation mit den Michelin-Einheitsreifen stößt auf Kritik.

Valentino Rossi machte sich nach seinem Long-run beim Katar-Test (von 1. bis 3. März) ernsthafte Sorgen, wie er die 22 Rennrunden auf dem Losail Circuit heil überstehen sollte. Denn sein Michelin-Hinterreifen verlor bei rund einer halben Renndistanz bereits 0,8 kg an Gewicht – also an Gummi.

Der Hinterreifen von Danilo Petrucci verlor bei einer Rennsimulation sogar 1,2 kg an Gewicht, jener von Bautista auch 0,8 kg. Übrigens: Ingesamt wiegt ein Hinterreifen 6 bis 6,5 kg.

Movistar-Yamaha-Werkspilot Valentino Rossi verlangte dann bei Yamaha die dringende Verpflichtung eines Spitzen-Elektronik-Ingenieurs, wie ihn Repsol-Honda mit Filippo Tosi engagiert hatte, als die Probleme mit der Einheits-ECU unüberwindbar schienen.

Da sich das Problem technisch in der kurzen Zeit bis zum Rennen in Doha nicht lösen ließ, griff Valentino Rossi zu einem fahrerischen Trick: Er absolvierte das Rennen mit deutlich weniger Schräglage als üblich.

«Rossi hat seinen Fahrstil für das Rennen komplett verändert. Er hielt das Motorrad aufrechter und ließ den Körper weiter aus dem Sattel hängen, dadurch hat er die Reifen sowohl vorne als auch hinten auf der Flanke weniger deformiert beziehungsweise erhitzt und die Lebensdauer des Reifens dadurch erhöht», schilderte ein aufmerksamer Beobachter und Szenekenner.

Der unerfahrene Yamaha-Kollege Johann Zarco hingegen fiel mit demselben weichen Hinterreifen in den letzten fünf Runden vom ersten auf den achten Platz zurück.

Natürlich bemüht sich Michelin nach Leibeskräften, alle Probleme kleinzureden und zu verniedlichen. Dazu wird eine beträchtliche PR-Maschinerie in Gang gehalten.

Die Lieferung von Einheitsreifen ist für die Reifenhersteller nicht unbedingt ein besonders reizvoller Geschäftszweig. Auch nicht in der Königsklasse. Siege werden als Selbstverständlichkeit betrachtet, Rundenrekorde auch, das heißt: Lob ist kaum zu erwarten, Kritik ist an der Tagesordnung.

Über die Kosten wird eisern geschwiegen. Aber die Bridgestone-Manager sprachen offen über ihr Budget von rund 20 Millionen Euro pro Saison. Es wurden bis zu 15.000 Reifen pro Jahr produziert. Die Japaner lieferten die MotoGP-Einheitsreifen von 2009 bis inklusive 2015 – sieben Jahre lang.

Michelin: 27 WM-Titel in 31 Jahren

Als der Reifenkrieg nach der Saison 2008 beendet wurde, hatte Michelin kein Interesse an einem Angebot für die Dorna als Einheitsreifen-Lieferant. Auch aus der Formel 1 zog sich Michelin zurück, als die Einheitsreifen vorgeschrieben wurden.

Die Bilanz von Michelin in der Königsklasse war bis 2006 umwerfend: Von 1976 bis 2006 wurden in der Königsklasse (500 ccm und MotoGP) 27 von 31 WM-Titeln und 360 GP-Siege errungen.

Bridgestone hat 2007 mit Ducati-Held Casey Stoner erstmals die MotoGP-WM gewonnen; 2008 sicherte sich auch Rossi als einziger Yamaha-Pilot den Bridgestone-Klebstoff. Er hatte zwar auf Michelin fünf MotoGP-Titel (2001 bis 2005) gewonnen, aber auch eine Laufflächen-Ablösung im Brünn-Training erlebt. Die Bridgestone-Techniker schwärmten damals mit Rollern aus, um möglichst viele Überreste des Michelin-Gummis einzusammeln und zu analysieren.

Rossi erlebte später bei Michelin noch ein Desaster in Laguna Seca 2007 – 30,6 Sekunden Rückstand auf Sieger Casey Stoner. Dann entschied er sich zum Wechsel auf Bridgestone – und wurde 2008 und 2009 auf Anhieb mit Bridgestone Weltmeister.

Übrigens: Yamaha-Werksfahrer Jorge Lorenzo musste als MotoGP-Neuling 2008 im Gegensatz zum Teamkollegen Rossi mit Michelin vorliebnehmen – und fabrizierte ein paar spektakuläre Highsider.

Einheitsreifen: Meinungsumschwung

Auf das Michelin-Management kam erhöhter Erklärungsbedarf zu, als die Franzosen entgegen der ursprünglichen Strategie, kein Interesse an der Produktion von Einheitsreifen zu haben, 2016 für vorerst drei Jahre in die MotoGP einstiegen – und den Vertrag im Oktober 2017 um fünf weitere Jahre bis Ende 2023 verlängerten.

«Die Rennszene war für uns immer schon eine willkommene Plattform für die Entwicklung neuer Technologien», verdeutlichte Michelin-Rennchef Nicolas Goubert im Exklusiv-Interview mit SPEEDWEEK.com. «Die MotoGP-WM ist eine ausgezeichnete Technologie-Plattform für uns. Erstens aus Imagegründen, zweitens weil hier die besten Motorradrennfahrer der Welt mitfahren, die sehr präzise Angaben für die Reifenentwicklung machen können. Wir treten in der MotoGP mit 17-Zoll-Reifen an, weil damit der Technologie-Transfer zur Serie am einfachsten ist. Die Motorradindustrie hat wenig Interesse an 16,5-Zoll-Reifen.»

Michelin ist Ende 2006 aus der Formel 1-WM ausgestiegen, als die Einheitsreifen kamen. In der MotoGP-WM ist Ende 2008 das Gleiche passiert. Michelin wollte unbedingt den üblichen Reifenkrieg. Warum haben die Franzosen ihre Meinung geändert?

«Wir sind 2011 in die Rallye-WM (WRC) eingestiegen und dachten, wir sind jetzt zurück in einer namhaften Meisterschaft und kämpfen dort gegen andere Reifenhersteller. Aber am Ende des Tages sind die Reifenfirmen, die vor 2011 dabei waren, ausgestiegen. Wir haben eigentlich erwartet, dass sie alle dabei bleiben...

Es lag also nicht an uns, dass wir dann drei Jahre lang fast alle WRC-Autos ausgerüstet haben», schilderte Goubert. «Gleichzeitig gab es aber ein FIA-Reglement, das uns vorschrieb, die Reifenentwicklung in der WRC voranzutreiben. Sie haben sich gewünscht, dass wir die Lebensdauer der Reifen jedes Jahr um 20 Prozent erhöhen. Das ist uns gelungen, und wir haben dadurch bei den Zeiten trotzdem keine Performance eingebüßt. Dadurch haben wir bei Michelin eingesehen, obwohl wir in der WRC als Reifenhersteller so gut wie allein waren, dass wir trotzdem die Technologien weiterentwickeln können, wenn wir uns die richtigen Ziele setzen und uns zwingen, die richtigen Reifen zu entwickeln.»
«Man erinnert sich ja an die 500er-WM in den späten 1990er-Jahren, als wir auch fast alle Teams und Fahrer ausgerüstet haben. Trotzdem ist damals bei uns die Entwicklungsarbeit nie stillgestanden, wir haben immer entwickelt und die Reifenperformance verbessert», gibt Goubert zu bedenken.

«Als wir im Winter 2013/2014 gehört haben, dass es in der MotoGP-WM eine neue Ausschreibung für die Einheitsreifen 2016 gibt, haben wir uns gesagt: ‚Hey, das ist eine gute Plattform. Selbst wenn wir allein sind.’ Also haben wir uns beworben. Wir hätten es zwar bevorzugt, wenn wir Mitbewerber hätten, also eine Konkurrenzsituation. Aber auch als Alleinausrüster ist die MotoGP eine einwandfreie Plattform für uns», lautet das Statement von Nicolas Goubert, der künftig für die Dorna den «Moto-e World Cup» managen und Michelin verlassen wird. «Ich brauche eine neue Herausforderung», ließ er durchblicken.

Sehnsucht nach dem Reifenkrieg

Die aktuelle Reifen-Situation erscheint nicht ideal. Michelin hat Verträge mit den Teams, die jegliche Kritik untersagen, wie zu hören ist. Die Teams hängen den Fahrern Maulkörbe um, es darf nicht über die Reifen gelästert werden.

So manche Teambesitzer und Teammanager sind mit der Situation in vielen Bereichen unzufrieden. Sie reden zwar darüber mit den Medien, aber nur wenn sie nicht zitiert werden, also «off the record».

Die Werke und Teams machen guten Miene zum bösen Spiel. Zu Zeiten des Reifenkriegs bestand ja die Möglichkeit des Markenwechsels… Damals nahmen sich Fahrer und Teams deshalb kein Blatt vor den Mund.

Aber als Cal Crutchlow im Sommer 2015 unbekümmert ausposaunte, bei einem Ducati-Test von Michele Pirro habe sich in Misano der Michelin-Hinterreifen aufgelöst, fing er sich einen gewaltigen Rüffel ein.

Oft wird die Kritik an Michelin sehr verklausuliert vorgebracht. Aber die Fahrer tragen ihre Haut und ihre Knochen zu Markte, deshalb kuschen sie ungern.

Die Diskussionen über Für und Wider von Einheitsreifen sind in der MotoGP-Klasse wieder in Gang gekommen. Manche Teams und Piloten sehnen die Zeiten des Reifenkriegs wieder herbei, als die Reifenfirmen Michelin und Bridgestone das «schwarze Gold» für die siegreichen MotoGP-Werke wie Honda, Yamaha oder Ducati quasi maßschneiderten. Dunlop spielte in der MotoGP-Viertakt-Ära nie in dieser Liga, Pirelli in der «premier class» zu 500-ccm-Zeiten auch nicht.

Michelin produzierte am Höhepunkte des MotoGP-Reifenkriegs am Freitag nach den ersten Trainings in Clermant-Ferrand/F noch neue Mischungen und karrte sie für Samstag und Sonntag zu den Europa-Rennen. Eine Standortvorteil, den Bridgestone als japansicher Hersteller nicht hatte.

Die Rückkehr zu einer Reifenvielfalt erscheint aber völlig unrealistisch. Erstens existiert ein Michelin-Vertrag bis Ende 2023, zweitens birgt ein Reifenkrieg auch schwerwiegende Risiken.

Ein Werk kann das schlagkräftigste Motorrad bauen und die besten Fahrer engagieren, aber wenn es sich in einer bestimmten Saison mit der zweitbesten Reifenfirma verbündet (wie Yamaha 2007 mit Michelin), dann fruchten die ganzen Millionen-Investitionen nichts.

Deshalb gilt die Einheitsreifen-Regel als das kleinere Übel.

Zumal es auch für viel mehr Ausgeglichenheit sorgt – und für die Privatteams die Kosten erheblich reduziert. Denn alle Teams erhalten die Reifen kostenlos.

Zu den Zeiten des Reifenkriegs bezahlte die Roberts-KTM-Truppe als Nachzügler-Team zum Beispiel 50.000 Euro pro Fahrer und Wochenende für die Michelin-Reifen, die sonst nur den großen Werksteams vorbehalten waren.

Die kleine Ilmor-Mannschaft hingegen bekam später die Michelin-Reifen bei den zwei Rennen mit der 800-ccm-Maschine kostenlos. Denn Teamteilhaber Roger Penske besitzt in Amerika die Logistikfirma «Penske Trucks» – mit einer Flotte von rund 300.000 Lkw.

Penske rüstete ein paar 1000 Lkw mit Michelin-Reifen aus – und profitierte dann dank dieses Gegengeschäfts in der MotoGP-Klasse durch eine bevorzugte Behandlung.

Ein anderer Nachteil des offenen Reifen-Wettbewerbs: Die Hersteller suchten sich die siegreichen Teams aus und liessen die Nachzügler links liegen. Jahrelang musstenb sich deshalb sogar die Wwerksteams von Kawasaki und Suzuki mit Dunlop-Reifen abmühen.

«Heute sind die Reifen das Hauptthema in der MotoGP», wundert sich der ehemalige Aprilia-Renndirektor Jan Witteveen. «Das halte ich für falsch. Dauernd wird gerätselt: Welche Reifen bringt Michelin zum nächsten Rennen? Auf welchem Belag und auf welcher Rennstrecke passen die Reifen zu welchem Motorrad? Halten sie das Rennen durch? Die 16,5-Zoll-Reifen von Bridgestone hatten eine höhere Flanke und eine Karkasse mit hoher Steifigkeit. Michelin liefert 17 Zoll-Reifen die, jedoch, eine Karkasse mit niedriger Steifigkeit haben. Deshalb kommt es zu größeren Deformationen der Reifen.

Dieses Konzept funktioniert nicht so wie gewünscht. Das ist die Erkenntnis nach den ersten zwei Jahren mit Michelin und dem Saisonauftakt 2017 in Doha. Die Teams tun am GP-Weekend fast nichts anderes, als die Abstimmung und die Elektronik an die Reifen anzupassen. Wenn ein Werk Technik-Updates bringt beim Chassis oder beim Motor, werden die Vorteile oft von den Reifenproblemen zunichtegemacht. Zu Zeiten des Reifenkriegs haben die Werke und die Reifenfirmen gemeinsam entwickelt. Heute entwickeln die Werke neue Motorräder, dann wechselt Michelin überraschend die Reifenkonstruktion, also wird der technische Fortschritt gebremst.»

Weil die Michelin-Reifen von Grand Prix zu Grand Prix als Überraschungstüte gelten, haben die Werke wie Honda, Yamaha und Ducati in den letzten Jahren ihre Testfahrten vor den Rennen verstärkt.

MotoGP Race-Director Mike Webb: «Yamaha testete und gewann 2017 in Le Mans. Honda testete und gewann in Brünn. Ducati testete und gewann in Mugello und Barcelona. Die Werksteams prüfen bei diesen privaten Tests, die oft nur einen Tag dauern, oft kein neues Material mehr, sondern sie verschaffen sich einen Set-up-Vorteil für den Grand Prix.»

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