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Reifendrucksünder: Es droht Disqualifikation – wann?

Von Günther Wiesinger
Seit Jerez sollte es in der MotoGP Strafen für die Reifendrucksünder hageln. Aprilia-Rennchef Massimo Rivola drängt auf eine rasche Inkraftsetzung der Vorschriften. Er hat triftige Gründe dafür.

Manchen MotoGP-Teammanagern kommt inzwischen bei der Frage, wann das geplante Reifendrucklimit endlich wirksam wird, ihre Gesprächigkeit abhanden. Manche wollen nicht zitiert werden, andere reden um den heissen Brei herum. 

«Über die Wirksamkeit des neuen Systems besteht noch keine Klarheit», ist Red Bull-KTM-Teammanager Francesco Guidotti überzeugt. «Deshalb ist es zu riskant, es jetzt in Kraft treten zu lassen.» 

Denn es könnte im Qualifying zu gestrichenen Runden führen und in den Rennen sogar zu Disqualifikationen, wenn ein oder mehrere Fahrer den Mindestreifendruck am Vorderreifen unterschreiten.

Dabei haben die Fahrer und Teams wenig Einfluss, sobald Quali oder Rennen gestartet wurden. Denn der Reifendruck vorne hängt einerseits von der Fahrweise des Piloten ab und anderseits wird er von der Temperatur des Vorderreifens beeinflusst. Und diese wiederum hat stark damit zu tun, ob der Fahrer allein unterwegs war oder im Windschatten, wodurch der Vorderreifen nur mangelhaft gekühlt wird. 

Bei Aprilia Racing herrscht die Überzeugung, Erzrivale Ducati würde vom Inkrafttreten der neuen Vorschriften am stärksten betroffen sein. Nicht nur weil Ducati acht der 22 Fahrer ausrüstet, sondern offenbar auch, weil die Roten beim Reifendruck vorne gern ans Limit oder darunter gehen. 

«Ich hoffe, das neue Reifendruck-Reglement wird noch 2023 wirksam», erklärte Aprilia-Racing-CEO Massimo Rivola auf Anfrage von SPEEDWEEK.com. «Ich dränge darauf. Aber es ist nicht einfach, dieses Ziel zu erreichen. Sobald das System zuverlässig funktioniert, müssen wir es in Kraft setzen. Ducati wird dann am stärksten benachteiligt sein.»

Paul Trevathan, von 2017 bis Ende 2020 fünf Jahre lang Crew-Chief bei Red Bull KTM für Pol Espargaró, danach dort zwei Jahre mit Miguel Oliveira (drei GP-Siege) erfolgreich und jetzt bei GASGAS-Tech3 wieder für Espargaró zuständig, gehört zu jenen Technikern, die eines Tages in der Praxis mit den neuen Vorschriften verantwortungsvoll hantieren müssen.

«Niemand will freiwillig mit dem Reifendruck betrügen», ist der Neuseeländer überzeugt. «Denn es ist ein schmaler Grat, auf dem man sich da bewegt. Der Reifendruck hängt auch stark von der Fahrweise des Piloten ab. Manche Fahrer können besser mit höheren Reifentemperaturen umgehen als andere.»

«Es ist schwer zu sagen, wer unter den neuen Vorschriften am meisten leiden wird», sagt Trevathan. «Denn die meisten Hersteller bemühen sich sehr, den Mindestdruck nicht zu unterschreiten. Erst wenn wir unter allen Bedingungen, mit und ohne Windschatten, über dem Limit bleiben müssen, wird sich zeigen, wer diese Gegebenheiten am besten managen kann.»

1,88 bar soll vorne das neue Limit sein

In der MotoGP-Saison 2023 werden die Reifendrücke in den Vorderreifen erstmals mit Einheits-Sensoren von LDL überwacht. Doch bei den ersten drei Grand Prix werden noch keine Strafen ausgesprochen, wenn jemand das 1,88-bar-Limit unterschreitet. Deshalb war bereits beim Sepang-MotoGP-Test (von 10.bis 12.2.) und beim Portimão-Probegalopp (11./12.3.) sowie bei den ersten Grand Prix in diesem Jahr auch die Kontrolle des Reifendrucks ein wichtiges Thema.

Nach dem Jerez-GP 2022 war bekanntlich ans Tageslicht gekommen, dass einige Fahrer über den Großteil der Renndistanz das vorgeschriebene Mindestlimit von 1,88 bar am Vorderreifen fast pausenlos unterschritten hatten.

Die Michelin-Techniker sind überzeugt, das könnte die Haltbarkeit des Reifens gefährden. Die Franzosen verlangen deshalb von den Teams und Motorradwerken eine genaue und sorgfältige Einhaltung des Mindestdrucks. Für 2022 wurden aber keine Strafen ausgesprochen, es wurde aber nach einer vernünftigen Lösung für die Saison 2023 gesucht.

«Hauptsächlich geht es jetzt darum, wie man den Reifendruck schon in der Box einstellt und wie man den Reifen konditioniert, um am Ende auf der Strecke im erlaubten Fenster zu sein», erklärte Ing. Sebastian Risse, der bei KTM Factory Racing die Aufgabe des Technical Coordinators für MotoGP erfüllt, im Gespräch mit SPEEDWEEK.com. «Klar, wenn das Kind einmal in den Brunnen gefallen ist, kann man auf der Strecke mit dem Fahrer nur noch begrenzt etwas machen. Es geht um den Mindestdruck. Wenn der Reifendruck zu niedrig ist, haben die Michelin-Techniker Sorgen und die Sicherheit», ergänzte Risse.

«Sprechen wir zum Beispiel über das MotoGP-Qualifying», erklärte Danny Aldridge, der MotoGP Technical Director, im Exklusiv-Interview mit SPEEDWEEK.com. «Du fährst also los und musst diesen Mindestreifendruck an irgendeiner Stelle auf der Strecke erreichen. Das könnte in der ersten oder in der letzten Kurve sein, das ist irrelevant. Die Vorschrift gilt für beide Reifen. Wenn also der Vorderreifen das Limit erreicht, der Hinterreifen aber nicht, dann wird die entsprechende Runde gestrichen.»

Übrigens: Der Mindestdruck hinten wurde mit 1,7 bar festgelegt. Aber das ist eigentlich nur eine Empfehlung von Michelin.

Die Überwachung läuft über das einheitliche Electronic Control Unit (ECU) von Magneti Marelli, alle Informationen sind verschlüsselt, aber sie werden an die offizielle Zeitnahme weitergeleitet. Bei einem Vergehen bekommt der Fahrer sofort eine Botschaft aufs Dashboard. Er weiß also, ob er in einer weiteren Quali-Runde pushen muss.

Bei den Wintertests wurden noch einige «bugs» gefunden, sie wurden großteils behoben, trotzdem bleibt der Probebetrieb für die ersten drei Grand Prix in Portimão, Termas de Río Hondo und Texas wie geplant aufrecht.

Weder bei den Tests noch bei den ersten drei Grand Prix werden Vergehen beim Reifendruck geahndet. «Bei den Tests gibt es keine Vorschriften für den Reifendruck. Wir kümmerten uns also nicht darum, mit welchen Reifendrücken gefahren wurde. Aber es war ja zum Nutzen der Teams, wenn sie Erfahrung mit dem Mindestdruck von 1,88 bar sammelten und nicht darunter blieben», meint Danny Aldridge.

Die Übermittlung der Reifendruck-Daten von den Sensoren an die Zeitnahme passiert im Quali ohne Zeitverzögerung, die Rundenzeit wird sofort in «real time» automatisch gestrichen.

«Das System funktioniert so gut, dass es auch erkennt, wenn es Probleme mit dem Sensor gibt und zum Beispiel die Daten nicht gesendet werden. Wir holen dieses Motorrad dann zur Technischen Kontrolle. Wenn der Fehler nicht am Team liegt, sondern am Sensor, wird die Runde nicht annulliert.»

Reifenlieferant Michelin legt die Parameter für den Mindestdruck von Rennen zu Rennen neu fest; ein maximal erlaubter Reifendruck existiert nicht.

Paul Trevathan, Crew-Chief von Pol Espargaró (GASGAS), ist der Meinung, ein Reifendruck vorne von 2,2 bar sei bereits gefährlich, wegen der geringen Reifenauflagefläche. Es sei aber vom Fahrstil abhängig. Manche Fahrer kommen mit hohen Drücken besser zurecht als andere.

«Wir werden aber in den Rennen keine schwarzen Flaggen zeigen, wenn die Fahrer die Mindestanforderungen nicht einhalten. Die Übeltäter dürfen weiterfahren, aber wir werden diese Bikes in die Technical Control holen und dort nachforschen. Wenn das System und der Sensor korrekt funktioniert haben, berichten wir an den FIM MotoGP Stewards Panel, und sie beraten über die Strafe. Normal wird es dann eine Disqualifikation ausgesprochen. Aber wie gesagt: Die Strafen obliegen den Stewards», schilderte der Technical Director.

Was muss passieren, dass ein Fahrer wegen eines illegalen Reifendrucks aus der Wertung fliegt? «Es geht um den Schnitt des Reifendrucks pro Runde», betont Aldridge. «So wird entschieden, ob es gut oder schlecht war.»

Die Fahrer werden von den Teams im Dashboard mit einem grünen Licht die Message bekommen, dass die neueste Runde vom Reifendruck her in Ordnung war.

Im Vorjahr haben Ducati und Aprilia Sensoren von McLaren verwendet. Bei der Suche nach einem einheitlichen Fabrikat haben die Japaner deshalb McLaren abgelehnt, andere vertrauten auf 2D, man einigte sich auf LDL aus Frankreich. Es gab unterschiedliche Kalibrierungen und unterschiedliche Toleranzen, also bei jedem Werk andre Ergebnisse.

«Wir wollten, dass sich die Motorradwerke auf ein Sensor-Fabrikat einigen. Sie kamen aber auf keinen gemeinsamen Nenner, also haben wir die Verantwortung übernommen und der Organisator hat die Wahl getroffen.»

Und die Dorna entschied sich nach Rücksprache mit Michelin für LDL.

Wie gesagt: Wann die Strafen erstmals ausgesprochen werden, ist weiter offen. «Wenn die Werke nach drei Grand Prix meinen, das System sei noch nicht ausgereift, werden wir mit den Strafen erst beim fünften oder sechsten Rennen beginnen, also in Le Mans oder Mugello», kündigte Danny Aldridge schon im Februar an.

Aber heute nennt niemand mehr einen fixen Termin.

«Nach Mugello wird beurteilt, ob das System verlässlich ist, ob deshalb die geplanten Vorschriften in Kraft treten können oder ob die Testphase fortgesetzt wird», berichtet Ducati-Sportdirektor Paolo Ciabatti auf Anfrage von SPEEDWEEK.com. 

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