Valentino Rossi: Noch immer der Grösste aller Zeiten
Vor dem ersten MotoGP-Kräftemessen der Saison 2016 bin ich gespannt auf die Frage, wie die seit dem Malaysia-GP 2015 innig verfeindeten Marc Márquez und Valentino Rossi miteinander umgehen werden.
Marc Márquez gibt sich der Illusion hin, ein Handshake mit dem neunfachen Weltmeister aus Italien werde alle Unstimmigkeiten aus der Welt schaffen.
Aber da wird er sich vermutlich täuschen.
Rossi wird über die Geschehnisse von Sepang 2015 und Valencia 2015 nicht hinwegsehen. Seine Rivalität artete schon mit Max Biaggi und Sete Gibernau (bei ihm war der Anlass der Katar-GP 2004) in offene Feindschaft aus, bei Stoner ging der gegenseitige Respekt und der kleine Rest von Zuneigung nach dem hemmungslosen Duell in Laguna Seca 2008 weitgehend verloren.
Aber Rossi weiss, dass Marc Márquez ein anderes fahrerisches Kaliber ist als beispielsweise Gibernau. Er weiss, dass Márquez nicht nur für Honda die Zukunft der MotoGP-WM ist, deshalb wird er seinen Zwist nicht so offen austragen wie gegen Biaggi, Gibernau und Stoner.
Aber man wird sich voraussichtlich im Parc Fermé nicht mehr dauernd umarmen, und auf der Piste wird der Fight unerbittlich sein.
Rossi läuft die Zeit davon, wenn er dem letzten Titelgewinn von 2009 noch eine zehnte WM-Krone hinzufügen will. Deshalb wird der bald 37-jährige Movistar-Yamaha-Werkspilot alles tun, um die Gunst der Stunde zu nützen.
Die Yamaha war 2015 das überlegene Motorrad, Lorenzo und Rossi gewannen elf von 18 Rennen, sie gewann die Fahrer-WM und dominierten die Marken- und Team-WM.
Honda will beim giftigen RC213V-Motor die Motorleistung durch mechanische Änderungen reduzieren, was sich 2015 mit Hilfe der Elektronik nicht bewerkstelligen liess. Aber wegen der umstrittenen Einheits-Elektronik von Magneti-Marelli konnte bei den November-Tests an fünf Tagen nicht eruiert werden, ob der neue Motor schlagkräftiger ist als der alte.
Yamaha hingegen kann den M1-Reihenvierzylinder weitgehend unverändert lassen, obwohl das neue Reglement (sieben statt fünf Motoren, 22 statt 20 Liter Sprit) durchaus einen leichten PS-Zuwachs erlauben würde.
Aber Valentino Rossi wird auf der Piste ganz auf sich allein gestellt sein, auch seine Landsleute Dovizioso und Iannone werden ihm nicht zur Seite stehen. Denn sie wollen Ducati beweisen, dass kein Casey Stoner nötig ist, um nach Oktober 2010 endlich wieder einen Grand Prix zu gewinnen, ausserdem kämpfen sie um neue lukrative Verträge für 2017, wie alle Top-Ten-Fahrer.
Und auf der Rennstrecke werden Lorenzo und die beiden Repsol-Honda-Stars Márquez und Pedrosa wieder eine spanische Armada bilden, vermutlich wieder eine Allianz gegen Altmeister Rossi.
Dani Pedrosa und Jorge Lorenzo tun ja in letzter Zeit so, als hätten sie mit dem Sepang-Dilemma gar nichts zu tun gehabt.
Aber Sepang-GP-Sieger Pedrosa sprang seinem Teamkollegen Márquez nach dem Revanchefoul von Rossi diensteifrig und pflichtschuldig zur Seite. Er kritisierte Rossi lautstark, ohne die genauen Videoaufzeichnungen gesehen zu haben.
Zur Erinnerung: Marc Márquez hatte zwar keine Titelchancen mehr, aber er tauschte mit Rossi in einer einzigen Runde zehnmal die Plätze, um das Vordringen des WM-Leaders zu verhindern.
Dani Pedrosa hätte seinen Sieg geniessen und sich aus dem anderen Schlamassel heraushalten sollen.
Jorge Lorenzo stieg nach Platz 2 aufs Podest und zeigte mit den Daumen nach unten, eine Anlehnung an die Gladiatorenkämpfe im alten Rom. Damals senkten die tobende Menge und der Imperator in seiner Loge den Daumen, um kundzutun, dass der unterlegene und schwerverletzte Gladiator durch das Schwert sterben sollte.
Für diese Aktion hat sich Lorenzo inzwischen mehrmals entschuldigt. Aber er hat damals auch eine schwerere Bestrafung von Rossi gefordert; die drei Strafpunkte und damit verbundene Rückversetzung in die letzte Startreihe in Valencia reichten ihm nicht.
Das war ungeschickt und unnötig. Denn diese Strafe entschied die WM zugunsten von Lorenzo. Und der Mallorquiner hätte sich als hochbezahlter Yamaha-Angestellter diese Kritik und diese Äusserung sparen sollen.
Genau so hätte sich Rossi seine Kritik an Márquez’ Fahrweise beim Australien-GP sparen sollen. Denn mit freiem Auge war keine Schützenhilfe von Márquez zugunsten von Lorenzo auszumachen.
Und Rossi bewirkte mit seinen Beschuldigungen genau das Gegenteil, Márquez drehte im Rennen von Sepang durch. Der Sieg interessierte ihn zum ersten Mal in seinem Leben nicht mehr. Er fuhr pro Runde eine Sekunde langsamer als Pedrosa, der in den vier Trainings einmal langsamer oder dreimal um ein, zwei und drei Zehntel schneller gefahren war als Márquez.
Wie auch immer: Rossi hat die WM nicht in Sepang und Valencia verloren, sondern in Aragón und anderen Rennen in der zweiten Saisonhälfte, als er Lorenzo erlaubte, 28 Punkte wettzumachen wie ab dem Jerez-GP im Mai, als Jorge vier Siege in Serie feierte.
Lorenzo war der beste und schnellste MotoGP-Pilot 2015, er ist verdienter Weltmeister. Und wenn er sich in Sepang aus diesem ganzen Dilemma vornehm herausgehalten hätte, wäre es schlauer gewesen.
Aber Sepang war für die Rossi-Gegner ein willkommener und sehnsüchtig erwarteter Anlass, auf dem Superstar und Publikumsliebling herumzutrampeln.
Ob Stoner, Márquez, Lorenzo oder Pedrosa, keiner reicht an die Beliebtheitswerte von Rossi heran, keiner ist so populär, keiner garantiert solche Einschaltquoten, keiner sorgt für solche Schlagzeilen.
Kein Wunder: Rossi agiert seit 1996 in der WM, er polarisiert, er hat schon ganze Generationen von Rennfahrern überlebt und überdauert, seine Leidenschaft ist ungebrochen, sein Siegeswille ebenfalls.
In Sepang bekam der Heldenstatus Rossis ein paar Risse, es bröckelte etwas von seinem Glanz ab. «The Doctor» zeigte charakterliche Schwächen, die ihm seine treuen Fans jedoch nicht im Geringsten verübeln.
Die Rossi-Gegner werden bis zum Rücktritt des Evergreens im Schatten stehen. Der Abgang von Casey Stoner hinterliess keine grosse Lücke, Márquez füllte sie vom ersten Tag an.
Wenn Rossi Ende 2016, Ende 2017 oder Ende 2018 aufhört, wird sich die MotoGP-Welt weiterdrehen. Aber die Nummer 46 wird fehlen, auch den Rossi-Gegnern.
Jorge Lorenzo ist ein aussergewöhnlicher Rennfahrer, er bemüht sich um seine Fans und sein Renommee. Aber ihm fehlen der Charme und das Charisma von Rossi und das Draufgängertum und der jugendliche Leichtsinn von Márquez.
Aber am 19. Januar 2016 musste der dreifache MotoGP-Champion aus Mallorca wieder einmal erkennen, wie sehr ihn Rossi bei Yamaha überstrahlt, auch als Vizeweltmeister.
Am Tag nach der Movistar-Teampräsentation wurden die 2000 grössten Yamaha-Händler Europas nach Barcelona eingeladen. Motocross-Weltmeister Romain Febvre wurde am Nachmittag präsentiert, dann knatterte MotoGP-Weltmeister Lorenzo auf die Bühne. Rund zehn der 2000 Händler applaudierten, erzählte ein Teilnehmer. Als die Moderatorin um mehr Respekt bat, klatschten 40 weitere Dealer in die Hände.
Alle wünschten sich Rossi als Yamaha-Helden auf der Bühne.
Nach einer längeren Pause trafen sich die 2000 Händler am Abend zum Gala-Dinner, im schwarzen Anzug und mit Krawatte. «Als dann überraschend doch Valentino noch zu später Stunde hinter dem Vorgang hervorbrauste, flogen Stühle, 2000 Menschen stürmten an die Bühne», berichtete mir ein Augenzeuge. «Lorenzo sass allein an einem Ehrentisch. Er tat mir wirklich leid.»
Die Schuhe und die Kleider von Rossi sind zu gross für seine potenziellen Nachfolger. Rossi ist der Grösste aller Zeiten, Hailwood hin, Agostini her. Daran ändern auch die WM-Niederlagen von 2014 und 2015 nichts.
Ob Marc Márquez an Rossi herankommt, werden wir erst in 15 Jahren beurteilen können. Mit der Methode «Sieg oder Sturz» wird der Spanier nicht auf 112 GP-Siege kommen.