Formel 1: Günther Steiner rechnet ab

Lewis Hamilton: Ein Ausnahmekönner ist angekommen

Von Mathias Brunner
​Der Engländer Lewis Hamilton (32) ist nach 2008, 2014 und 2015 zum vierten Mal Formel-1-Weltmeister. Niemand wird mir widersprechen: Der 2017 beste Mann hat den Titel geholt.

Lewis Hamilton ist Formel-1-Weltmeister 2017. Zum vierten Mal nach 2008 (damals mit McLaren) sowie 2014 und 2015 (im Silberpfeil). Der Engländer holt damit nach, was ihm 2016 gegen Nico Rosberg knapp entgangen ist.

Der 32jährige Engländer ist nun der fünfte Fahrer, dem vier WM-Titel gelingen – nach Juan Manuel Fangio (der letztlich fünf Mal Champion wurde), Alain Prost, Michael Schumacher (Rekordhalter mit sieben WM-Titeln) sowie Sebastian Vettel.

Keiner wird mir widersprechen, wenn ich hier festhalte: Der beste Mann, über die ganze Saison gesehen, hat gewonnen.

Hamilton hat alleine in dieser Saison elf Pole-Positions erobert. Er hat damit in der ewigen Bestenliste nacheinander die Formel-1-Legenden Ayrton Senna und Michael Schumacher überholt.

Familie Senna spendierte in Kanada die Replika eines Helmes (das Original folgte später), Hamilton war zu Tränen gerührt und liess den knallgelben Helm gar nicht mehr los.

Der nächstbeste Fahrer 2017 in Sachen Poles: Sebastian Vettel, mit vier Bestzeiten im Abschlusstraining.

Hamilton hat neun Saisonrennen gewonnen und steht bei 62 Siegen. Nur Michael Schumacher (91 Siege) liegt vor ihm. Sebastian Vettel konnte 2017 nur vier Mal gewinnen.

Hamilton hat sämtliche Rennrunden 2017 beendet, als Einziger, und er ist ebenfalls als Einziger bei allen Rennen in die Top-Ten gefahren.

Seit der Sommerpause ist Mercedes-Star Hamilton fast nicht zu schlagen: sechs Rennen, fünf Siege (Belgien, Italien, Singapur, Japan sowie Texas), dazu ein zweiter Rang (Malaysia). Dann folgte der Titel in Mexiko nach einem merkwürdigen Rennverlauf.

Vettel und Ferrari hingegen konnten nach der Sommerpause kein einziges Rennen mehr gewinnen. Das war einfach zu wenig gegen einen so bärenstarken Hamilton.

Der Triumph der fahrerischen Klasse ist das Eine, die Technik das Andere: Hamilton ist vom Mercedes-Motor 2017 nie im Stich gelassen worden. Um genau zu sein, hat 2017 kein einziger Fahrer mit Mercedes-Motor eine Strafversetzung wegen des Einbaus von mehr als der erlaubten vier Motoren (oder Teile davon) hinnehmen müssen!

Der neue Lewis Hamilton

Lewis Hamilton polarisiert. Viele Fans können mit dem ganzen Rapper-Gehabe und seinem Jetset-Dasein wenig anfangen. Aber wir haben 2017 an Hamilton neue Facetten entdeckt.

Ohne den nervenzermürbenden Kampf gegen Nico Rosberg ist Hamilton aufgeblüht. Er wirkt weniger verbissen als früher. Er hat den Zweikampf mit Sebastian Vettel im Ferrari wirklich genossen.
In Singapur sprach er auf einmal über Ansichten zur Welt, die nachdenklich stimmen. Es waren Worte, die spontan kamen und aus tiefem Herzen.

Das war kein Marketing-Gewäsch, wie wir es sonst als Dutzendware aufgetischt erhalten. Das war ein Weltklassesportler, der die Schranken niederlegt und sich offenbart. Das ist in der Formel 1 selten.

Ich teile nicht alle Ansichten, die Hamilton in jener Nacht von Singapur mit der Welt geteilt hat. Aber ich empfinde Respekt dafür, dass er so freimütig gesprochen hat.

«Ich habe vor zwei Jahren aufgehört, rotes Fleisch zu essen. Fisch war der nächste Schritt. Der Grund für das alles: Ich habe Dokumentationen gesehen, die mich sehr nachdenklich gestimmt haben. Ihr wisst alle, wie sehr ich Tiere liebe. Was wir als menschliche Rasse in der Welt anrichten, ist unfassbar. Es wird gesagt, dass unser Mastvieh mehr Schadstoffe erzeugt als wir alle durch Flügel und Autos produzieren. Das ist doch verrückt.»

«Am meisten macht mir zu schaffen, mit welcher Grausamkeit Tiere behandelt werden. Das wollte ich einfach nicht länger unterstützen. Ich will gesünder leben. Bislang habe ich durch die Umstellung nicht den Eindruck, dass ich etwas verpasse oder dass meinem Körper etwas fehlt.»

«Ich habe viele Menschen getroffen, die sich dazu entschlossen haben, vegan zu leben, auch viele Freunde. Alle wirken kerngesund und fühlen sich besser. Sie sagen: Das war die beste Entscheidung, die ich je getroffen habe. Sie sind voll positiver Energie, sie sind rank und schlank.»

«Es gibt auch viele Studien, die belegen: Sich vegan zu ernähren, das ist der gesündeste Lebensstil. Wenn du dann in dieser Dokumentation siehst, welch ein Schund für die Fleischherstellung verwendet wird, Lebensmittel, die wir alle täglich zu uns nehmen, dann sage ich – ich kann das nicht länger ignorieren.»

«Ich will nicht in zehn oder fünfzehn Jahren zuckerkrank werden. Ich will nicht am Herzen erkranken, was in meiner Familie vorgenommen ist. Ich will keinen Krebs, was ebenfalls in meiner Familie vorgekommen ist. Wenn jemand unbekümmert weiterleben will und seine Gesundheit riskiert, dann ist das seine eigene Wahl. Ich will das nicht mehr. Ich will etwas ändern, bevor ich krank werde. Und ich hoffe, ich schlage damit die korrekte Richtung ein. Vielleicht kann ich sogar den einen oder anderen davon überzeugen, es mir gleich zu tun.»

Die Worte erzeugten enormes Echo, bei SPEEDWEEK.com in Form zahlreicher Kommentare. Einige meinten: Wenn schon konsequent, dann solle Herr Hamilton bitteschön auch auf das Tragen von Leder verzichten. Andere führten ins Feld, der Mensch sei nun mal als Fleischesser konzipiert.

Das ändert alles nichts daran, dass der Hamilton von 2016 nicht so gesprochen hätte. Hamilton wirkt entspannter denn je, mit sich selber im Reinen, irgendwie angekommen und in sich ruhend.
Lewis Hamilton: «Ich bin kein Playboy»

Hier eine Modeschau in Mailand oder Paris, da ein Dinner mit einer Sängerin oder einem Supermodel in New York oder, und dann ab ins Musikstudio nach Los Angeles oder in den Schnee von Colorado! Lewis Hamilton ist im Grunde der einzige richtige Formel-1-Star.

Er selber jedoch sagte von sich im Frühling in der australischen Men’s Health: «Ich habe kein Playboy-Leben. Ich trainiere mindestens so hart wie die Anderen. Aber ich weigere mich, ein fades Dasein zu fristen, nur weil ich Rennfahrer bin.»

«Da gibt es eine Schablone, die irgendeiner mal für einen Rennfahrer entworfen hat. Du musst ein Spiesser sein und hübsch in die Schachtel des Modellrennfahrers passen, leider steht auf dieser Schachtel „stinklangweilig“. Mach ja nichts Anderes als Tag und Nacht an den Rennsport zu denken! Ja kein Spass, ja kein Lächeln! Da komme ich mir vor, als wäre mir geraubt worden, normal heranzuwachsen. Ich hängte nicht mit Kumpels ab, ich war ständig auf den Sport fokussiert. Immer pflichtbewusst, immer ernsthaft.»

«Ich probiere halt gern Neues aus. Doch ich bin deswegen nicht weniger auf meinen Job konzentriert als meine Arbeitskollegen. Sie leben vielleicht anders. Sie gehen nach einem GP-Wochenende nach Hause, du triffst sie nicht bei Veranstaltungen. Aber ich trainiere mindestens gleich viel wie sie, wenn nicht härter, auch wenn ich noch all das andere Zeugs mache.»

Seine scheinbare Ruhelosigkeit erlärt er so: «Ich habe all diese Energie. Ich trainiere, ich reise, ich lerne mehr über Musik und über Mode, ich lese sehr viel. Ich will nichts verpassen. Ich will alles kosten. Wenn ich mit Jay-Z oder Pharrell Williams ins Studio gehen kann, dann pack ich die Gelegenheit beim Schopf. Warum nicht? Ich mag es, in Gesellschaft wahrer Grösse zu sein.»

Über die Formel 1 sagt Hamilton: «Ich könnte ganz leicht aufhören. Ich habe mehr erreicht, als ich mir je erträumt hatte. Aber ich bin noch immer hungrig.»

Für die neuen Formel-1-Grossaktionäre von Liberty Media ist Lewis Hamilton eine Gottesgabe. Kein Fahrer hat mehr Anhänger in den sozialen Netzwerken, keiner postet mehr, keiner lebt das Image des Formel-1-Weltstars so konsequent und intensiv.

Immer wieder höre ich, dem modernen GP-Sport mangle es an echten Typen. Ich gestatte mir, zu widersprechen.

Lewis Hamilton, der sich eine Goldkette um den Hals hängt, seinen Körper zum Tattoo-Gesamtkunstwerk verändert, Bilder von seinen Hunden ins Netz stellt oder von coolen Autos, der auf dem Piano herumklimpert, mit einem Tiger schmust, Modewochen besucht, sich die Haare blondiert oder zum Irokesen schneidet und so zwischendurch die Konkurrenz in Grund und Boden fährt – also, wenn das bitteschön kein Typ ist, wer dann?

Bei Liberty Media sind wir da in guten Händen. Die US-Amerikaner verstehen, dass Menschen den Bezug zu anderen Menschen suchen, nicht zu kalter Technik. Wenn ein Formel-1-Fan am Lenkrad seines Autos sitzt und das Gaspedal ein wenig mehr durchdrückt, dann fühlt er sich ein wenig wie Vettel oder Hamilton, aber bestimmt nicht wie eine Antriebseinheit mit Mehrfach-Energierückgewinnung.
Seit Hamilton die Zwangsjacken namens Ron Dennis, Nicole Scherzinger und Nico Rosberg abgelegt hat, wirkt er glücklich. Er geniesst ganz offensichtlich, was er tut. Niemand sagt ihm wie früher bei McLaren, ob er seine Serviette beim Essen jetzt auf den linken oder rechten Oberschenkel legen soll.

Mercedes führt Hamilton an der langen Leine. Niki Lauda, Aufsichtsrats-Chef des Mercedes-Rennstalls, und Teamchef Toto Wolff halten sich an eine einfache Vorgabe: So lange Hamilton auf der Piste Leistung bringt, ist sein Privatleben – so durchgeknallt es hin und wieder auch scheinen mag – wirklich sein Privatleben.

Wenn es einen Wermutstropfen gibt bei Hamilton und der Saison 2017: Nichts hätte der Engländer lieber getan als bis nach Abu Dhabi gegen Sebastian Vettel und Ferrari zu kämpfen.

Sich durchbeissen, das entspricht voll und ganz der Lebenseinstellung Hamiltons. «Still I rise» ist nicht zufällig farbig in seine Haut eingeschossen oder steht hinten auf seinem Helm, an Widerständen zu wachsen, das taugt ihm, das peitscht ihn vorwärts.

Der kleine Bub aus Stevenage

Bei aller Reife ist Lewis Hamilton im Kern der kleine Bub aus Stevenage geblieben. Dieses Glitzern in den Augen, wenn er von einem Erlebnis schwärmt wie etwa vom Kartfahren mit Kids, samt Herumblödeln für alberne Instagram-Fotos, diese Verletzlichkeit, wenn er einen Tiefschlag verdauen muss – Hamilton ist stets sich selber, zum Glück für uns ist er ein miserabler Schauspieler.

Die Formel 1 soll Emotionen wecken. Fahrer, die mit eintöniger Stimme Worthülsen von sich geben, wecken keine Emotionen. Hamilton wird von vielen verehrt, von anderen verschmäht. Aber er lässt keinen kalt.

Fernando Alonso – der dem Briten so viel Respekt entgegen bringt wie es Sebastian Vettel tut – war schon 2015 der Meinung: «Für mich steht ohne jeden Zweifel fest, dass Lewis einer der ganz Grossen ist. Wenn einer wie Niki Lauda oder Ayrton Senna drei Titel gewinnt, dann kannst du ihn doch nicht auf eine niedrigere Stufe stellen. Ich halte ihn für einen der Besten, und ich glaube auch: Da kommt noch mehr.»

Hamiltons Landsmann Nigel Mansell meinte: «Lewis Hamilton wird nur von einem Faktor beschränkt – nämlich von sich selber. Wenn das innere Feuer bleibt, wenn er sich weiter so motivieren kann, dann gibt es für Hamilton fast keine Grenzen.»

Lewis’ Vater Anthony glaubt: «Es wird alles davon abhängen, wie lange er das innere Feuer spürt. Er ist ein extrem wettbewerbsorientierter Mensch, er liebt das Gefühl des Siegers. Daher glaube ich, wird er noch auf Jahre hinaus fahren.»

Lewis Hamilton hat ein paar Mal davon gesprochen, dass er von heute auf morgen alles hinwerfen könnte und dann etwas ganz Anderes machen wird. So richtig glauben will ich ihm das nicht.

«Still I rise» ist noch lange nicht zu Ende.

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