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Dirk Debus: So funktioniert eine Traction-Control

Von Günther Wiesinger
Der deutsche Elektronik-Ingenieur Dirk Debus ist bei Forward Racing für Stefan Bradl tätig und kümmert sich um die Motorsteuerung. Wer sollte besser erklären können, wie eine Traktionskontrolle funktioniert?

Dirk Debus ist Mitbegründer und gemeinsam mit Rainer Diepold Teilhaber der Firma «2D datarecording». Er kümmert sich seit mehr als 20 Jahren bei etlichen MotoGP-Teams um die elektronischen Datenaufzeichnungen und das Programm für die Motorsteuerung, er war schon beim Yamaha-500-Werksteam tätig, später bei Suzuki. Seit 2012 betreut er das MotoGP-Team von NGM Forward Racing, das 2015 mit Stefan Bradl und Loris Baz auf Open-Bikes von Yamaha antritt.

Dirk Debus ist bei Forward für die elektronischen Systeme zuständig. Er war massgeblich an der Entwicklung der Einheits-ECU von Magneti Marelli beteiligt.

SPEEDWEEK.com hat sich bei dem deutschen Elektronik-Ingenieur erkundigt, wie heute im MotoGP-Sport eine Traction-Control funktioniert.

Dirk, wie greift eine moderne Traction-Control heute ins Geschehen ein? Wie muss man sich das vorstellen?

Man kann sich das ähnlich vorstellen wie das Elektronische Stabilitätsprogramm (ESP), die in einem normalen Auto die Fahrdynamik regelt. Es läuft bei einer Rennmaschine ähnlich ab. Das ESP macht ein bisschen mehr, weil dieses System auch feststellt, ob sich ein Auto dreht, ob das Fahrzeug untersteuert oder übersteuert.
Die Traction-Control verhindert im Grunde nichts anderes als das zu schnelle Durchdrehen des Hinterrads.

Das heftige Durchdrehen des Hinterrads wird mit Hilfe eines Sensors am Vorderrad geregelt?

Nicht ganz, man misst mit dem Vorderrad die momentane Geschwindigkeit des Fahrzeugs und legt dann fest, um wieviel sich das Hinterrad an jeder Stelle der Rennstrecke schneller drehen darf.
Jeder Autofahrer weiss, dass er beim Anfahren auf Schnee gefühlvoll Gas geben soll, da der Grip komplett verloren geht, wenn die Antriebsräder erst einmal durchdrehen. Ein identisches Ziel verfolgt die Traction-Control bei einem MotoGP-Motorrad.
Das Vorderrad dreht sich immer mit Fahrzeuggeschwindigkeit.
Wenn du 100 km/h fährst, dreht sich das Vorderrad mit 100 km/h. Man kann jetzt zum Beispiel festlegen, das Hinterrad darf sich nur 5 Prozent schneller drehen, also mit 105 km/h, und sobald es sich schneller dreht, soll Leistung weggenommen werden, dann hat man schon einen Parameter für die Traktionskontrolle festgelegt.

Nachher wird die Traction-Control so programmiert, dass das System immer weiss, an welcher Stelle der Strecke sich das Motorrad befindet, wie viel Schräglage dort gefahren wird und wie viel Power per Gasgriff abgerufen werden kann, ohne dass ein Highsider passiert?

Genau. Für jede Kurve und jede Schräglage legt man diese Grenzwerte fest, mit denen dann über einen Algorithmus die zu reduzierende Leistung berechnet wird.

Nicky Hayden ist 2013 im Mugello-Training eine Abkürzung zur Box gefahren. Dadurch hat seine Ducati die Orientierung verloren, er ist deswegen in der ersten Kurve gestürzt.

Genau. GPS-Systeme und Satellitennavigation sind in der MotoGP verboten, das Motorrad weiss nur anhand der Distanz, wo es sich auf der Strecke gerade befindet. Es weiss zum Beispiel: Kurve 7 ist von Start/Ziel 1550 Meter entfernt.

Vor einem Rennen müssen heutzutage rund 5000 Parameter eingegeben werden?

Ja, für das Programmieren dieser Parameter, sie sind abhängig von den verwendeten Reifen, vom Wetter, von der Art der Rennstrecke, von der Startposition, vom Chassis-Set-up und so weiter, für diese Aufgabe, dass das Motorrad immer mit dem passenden Parametersatz aus der Box rausfährt, ist bei Forward-Yamaha für Stefan Bradl Tex Geissler zuständig.
Tex darf keinen Fehler machen und muss alle Kommentare des Fahrers mit diesen ganzen Parametern abgleichen.
Ich bin mehr für die Entscheidungen zuständig, an welchem Parameter wir «drehen», wenn dem Fahrer etwas nicht passt. Oder wenn wir irgendwo zu langsam sind oder nicht genug Leistung haben.
Es geht also um die Frage, welche Parameter abhängig von Gripveränderungen angepasst werden.
Unser Applications-Manager Tex Geissler erledigt das komplette Management dieser Informationen. Er weiss: Beim nächsten Run fahren wir mit dem weichen Bridgestone-Reifen raus, also muss ich diese und jene Parameter ins Programm reinschicken.

Und die meisten Parameter müssen von Strecke zu Strecke neu angepasst werden?

Ja. Sagen wir, wir sind jetzt zum Beispiel auf der Rennstrecke in Sepang/Malaysia. Da ist die erste Kurve nach 357 Metern und die zweite nach 400 und die dritte nach 700. Die Motorsteuerung muss diese Werte (= Parameter) gesagt bekommen. Denn sie weiss grundsätzlich nichts von Sepang.
Die Motorsteuerung muss dann im Rennen wissen, dass es zum Beispiel von Stefans Startposition bis zur Startlinie 70 Meter sind und dass es in Mugello meinetwegen 130 Meter sind.
Die Verwaltung dieser Logistik ist recht aufwändig und gleichzeitig enorm wichtig; das erledigt also Tex für den Stefan.

Und wie unterscheidet sich eine ausgeklügelte Traction-Control von einer weniger fortschrittlichen?

Dass du bei einer sehr guten Traktionskontrolle viel mehr Parameter berücksichtigen kannst. Wobei es nicht nur um die Anzahl der Parameter geht, sondern auch darum, wie clever sie verrechnet werden.
Vergleichen wir es mit einem geschriebenen Text. In einem einfachen Texteditor kannst du einen normalen Brief oder Artikel schreiben, aber du kannst nicht unterstreichen oder ein Wort kursiv oder fett machen, du kannst eigentlich nur grosse und kleine Buchstaben machen. Das wäre eine einfache Traction-Control.
Wenn du fürs Schreiben eine bessere Software hast (zum Beispiel: Word), kannst du automatisch einrücken, du kannst den Text im Blocksatz, linksbündig oder rechtsbündig setzen und so weiter.
Das wäre eine bessere Traction Control.
Wenn du dann eine richtig komfortable Traktionskontrolle hast, fängst du an zu tippen, du schreibst MOT, darauf schlägt dir das Programm gleich vor, schreib «MOTOGP». Und wenn du «MfG» tippst, macht das Programm daraus gleich «Mit freundlichen Grüßen». Wenn du dann noch eine Rechtschreibkorrektur hast, eliminierst du die meisten Fehler schon bei der Eingabe und kannst deshalb weniger Fehler machen. Du bist dann auf der sicheren Seite.

Manche Fans glauben womöglich, dank der ganzen elektronischen Systeme kann heute jeder Affe mit einer MotoGP-Maschine am Limit fahren?

Bei den ersten Serienautos mit ESP wurde im «Ernstfall» einfach viel Leistung weggenommen, du bist dann sicher, aber ganz langsam um die Kurve gefahren. Das ist bei einer Traction-Control ähnlich. Du kannst sie so sicher machen, dass nichts passiert, aber du kommst dann nicht schnell genug voran. Es geht aber im Rennsport immer um die beste Rundenzeit.

Trotzdem wird die Leistung reduziert? Um wie viel?

Das ist unsere Test- und Abstimmungsarbeit an jedem Rennwochenende. Du kannst zum Beispiel nicht sagen: Zwölf Prozent ist perfekt.

Aber angenommen, ich fahre jetzt die Yamaha von Stefan Bradl, dann bekomme ich als Ahnungsloser natürlich viel weniger Power als er?

Ja, wir können die Motorsteuerung so einstellen, dass du mit dem Motorrad auf keinen Fall durch einen Highsider auf die Schnauze fliegst. Nur fährst du dann in Jerez halt statt 1:39 min eine Rundenzeit von mehr als 3 Minuten, weil du aus den Kurven nicht schnell genug beschleunigen kannst, du hast dann Power wie bei einer 400er.

Aber selbst ein MotoGP-Spitzenfahrer kriegt oft nicht 100 Prozent der möglichen Power. Beim Valencia-Test hat Bradl mit 67 Prozent der maximalen Motorleistung seine beste Rundenzeit gedreht?

Ja. In den kleinen Gängen müssen wir bei einem MotoGP-Motorrad bei mehr als 260 PS und unter 170 kg deutlich Leistung reduzieren. Um ein sinnloses Durchdrehen des Hinterrads oder ein unendliches Wheelie zu verhindern.
Aber im fünften und sechsten Gang haben wir fast immer 100 Prozent. Im ersten Gang kommt es auf die Länge der Übersetzung an. Wir können jeden Gang in verschiedenen Stufen einstellen. Der erste Gang kann zum Beispiel bei Nenndrehzahl zwischen 180 km/h und 230 km/h übersetzt werden.
Wenn du den ersten Gang auf 220 km/h übersetzt hast, heisst das, du fährst damit ziemlich lang und schnell, dann kannst du dafür 80 Prozent der maximalen Power einsetzen. Wenn du in Jerez mit einem kurzen ersten Gang fährst, aber die gleiche Leistung zulässt, fährt der Fahrer bei Vollgas nur Wheelies und überschlägt sich.
Übrigens: Aleix Espargaró hatte beim Valencia-GP ungefähr gleich viel Power wie Stefan, also rund 70 Prozent.

In der 500-ccm-Zweitakt-Ära sind die Fahrer auf der winkeligen Shah Alam-Piste nur während rund 7 Prozent der Rundenzeit Vollgas gefahren. Wie sieht es heute mit den 1000-ccm-Viertaktern aus?

Das ist heute noch genau so, eher sogar noch schlimmer, weil wir noch mehr Leistung haben. Eine 500er ist auf Phillip Island nur 5 Prozent der Runde auf Vollgas gelaufen, nur auf der Start/Ziel-Geraden.

Du erwähnst oft den Begriff Algorithmus. Was darf sich der geneigte Leser darunter vorstellen?

Das ist eine Verarbeitungsvorschrift. Ein Beispiel: Wenn du die einfachste Traction-Control hättest, mit der das Hinterrad nicht mehr als 5 Prozent schneller dreht als das Vorderrad, könntest du der Motorsteuerung sagen: Bei 106 km/h am Hinterrad schalte den Motor aus und bei 104 km/h wieder an... Das Motorrad würde wie ein Känguru über die Start/Ziel-Gerade hüpfen – an/aus, an/aus, an/aus.
Das wär eine ganz einfache Traction-Control; sie würde Stürze verhindern, aber du kämst nur ganz langsam voran.
In diesem Fall spricht man von einem einfachen Algorithmus. Er würde diktieren: Wenn das Hinterrad schneller dreht als das Vorderrad, dann den Motor ausschalten.
Ein anderes Kommando könnte lauten: Wenn das Hinterrad 5 Prozent schneller dreht als das Vorderrad, dann reduziere die Leistung für jedes km/h über 105 km/h um 1 Prozent, also bei gemessenen 125 km/h (bei weiterhin 100 km/h wirklicher Geschwindigkeit) um 20 Prozent, dann hast du schon einen komplizierteren Algorithmus. Wenn du das jetzt für jede Kurve und jede Schräglage und jeden Gang und so weiter machen kannst, bist du ungefähr dort, wo wir mitkämpfen.

Gibt es heute noch Fahrer, die am liebsten ganz auf die Traction-Control verzichten würden?

Ganz ohne Traction-Control kannst du heute nicht mehr schnell sein, weil der Level der Fahrer und der Motorräder so hoch ist... Du kannst nicht mehr einfach so Gas geben wie früher und das Gas zudrehen, wenn du merkst, das Hinterrad dreht durch. Du musst versuchen, so früh wie möglich Vollgas zu geben. Dabei hilft dir die Elektronik.

Valentino Rossi hat Casey Stoner 2007 despektierlich als ersten Fahrer der «Generation Traction-Control» bezeichnet. Wäre es für Rossi heute noch besser, wenn alle Fahrer ohne Traction-Control fahren würden?

Ich glaube, auch ein Rossi könnte ohne Traktionskontrolle nicht so schnell fahren wie mit ihrer Unterstützung.
Aber trotzdem eventuell besser als viele andere Fahrer. Die Sturzwahrscheinlichkeit über die Renndistanz beziehungsweise die Unterschiede bei den Rundenzeiten würden jedoch sicher deutlich zunehmen.

Wenn 2016 die Einheits-ECU kommt, die weniger ausgeklügelt ist als die jetzige Software der Werke, wird Rossi dann wieder gewisse Vorteile haben?

Ich glaube, dann werden Stefan Bradl und viele andere Moto2-Fahrer auch gewisse Vorteile haben...

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