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History: Singapur – alles begann mit haarigem Irrtum

Von Mathias Brunner
​Kein Formel-1-WM-Lauf ist so schnell zum Klassiker geworden wie das Nachtrennen von Singapur. Jedes Jahr ausverkaufte Hütte und hervorragende Stimmung. Dabei begann alles mit einem Irrtum.

Der Grosse Preis von Singapur ist ein Formel-1-Phänomen: Das Nachtrennen ist in Rekordzeit zum Klassiker geworden, auch Ausgabe 2018 war ausverkauft. So mancher Veranstalter eines WM-Laufs kann sich dicke Scheiben davon abschneiden, wieso der WM-Lauf im Stadtstaat ein solcher Knüller geworden ist. Und dabei began alles mit einem haarigen Irrtum.

Singapur bedeutet ja – für alle, die jetzt nicht den Umweg über Google machen möchten – «Stadt der Löwen» (malaysisch «singapura»), basierend auf der Legende von Prinz Snag Nila Utama, der mit seinem Schiff an der Küste gelandet war und einen Löwen gesehen haben will. Nur gab es in dieser Ecke unseres schönen Planeten leider nie Löwen, der Prinz sah in aller Wahrscheinlichkeit einen malaysischen Tiger. Die Korrekturbrille wurde zwar im 13. Jahrhundert in Italien erfunden, aber die Exportindustrie hinkte damals ein wenig, also wollen wir mit dem kurzsichtigen Prinzen ein wenig nachsichtig sein.

700 Jahre später interessiert keinen mehr, ob Snag Nila Utama einen Knick in der Optik hatte. Um genau zu sein, weiss vermutlich kaum einer der Besucher, was der Prinz da in Bewegung gesetzt hat. Die Touristen drängeln sich am Fusse des Fabelwesens Merlion und knipsen sich (nein, keinen Löwen) einen Wolf: Der Merlion ist eine Mischung aus Löwenkopf und Fischkörper, das Maskottchen von Singapur.

Entworfen wurde es vom britischen Fischforscher Alec Frederick Fraser-Brunner (keine Verwandtschaft mit dem Autor), die Skulptur steht seit 1964 am Singapore River, und nicht einmal ein Blitzschlag Ende Februar 2009 konnte Merlion etwas anhaben. Er hat sich höchstens beim Wasserspeien kurz verschluckt.

«Mer» steht für das Meer, «lion» für den Löwen, und zum Fischkörper ist der Löwenkopf deshalb gekommen, weil der Ursprung von Singapur das Fischerkaff Temasek war. Ich finde, das passt ausgezeichnet zum heutigen Singapur, den einigen der hier getätigten Finanzgeschäfte wird auch eine gewisse Glitschigkeit nachgesagt.

Gefischt wird heute noch und das sehr erfolgreich. Und dies gleich auf zwei Ebenen.

In wenigen Ausgaben ist das Nachtrennen zu einem Edelstein unter den Grands Prix geworden, der nur noch von Monaco überstrahlt wird. Das Rennen wird intensiv und weltweit beworben, und die Fans danken es mit grosser Treue: Jeder dritte Besucher war schon einmal beim Rennen.

Hotelbetreiber und Ladenbesitzer lassen sich Einiges einfallen: Die asiatische Metropole ist einer jener Grand-Prix-Orte, wo wir alle paar Meter über die Formel 1 stolpern – Show-Cars, Verkaufsstände, Singapur ist von hinten bis vorne beflaggt, zahllose Schaufenster lehnen sich bei der Dekoration ans Autorennen an.

Besonder appetitlich fanden wir vor ein paar Jahren die Idee der Köche aus dem «Royal Plaza»: 18 Kellenkünstler klebten einen Rennwagen aus Pasta zusammen – im Massstab 1:1, wohlgemerkt. Zum Glück wurde das Auto in der klimatisierten Hotel-Lobby gezeigt und nicht draussen auf der Strasse. Angesichts der hohen Luftfeuchtigkeit wäre es in schätzungsweise 45 Minuten al dente gewesen.

Was das Singapur-GP-Wochenende auch so verlockend macht: Auf verschiedenen Bühnen sind Welt-Stars zu sehen. Singapur hat vorweggenommen, was der Medienkonzern Liberty Media aus der Formel 1 machen will – eine Grossveranstaltung mit vielen Attraktionen weit über Motorsport hinaus. Hier fegten unter Anderen über die Bühne: Kylie Minogue, Duran Duran und The Killers, Bon Jovi, Justin Bieber, Robbie Williams, Simply Red, Katy Perry, Pharrell Williams, Ariana Grande und Dua Lipa.

Als hübscher Kontrapunkt steht gleich gegenüber der Padang-Bühne das altehrwürdige Cricket-Klubhaus. Es wird auch dieses Jahr von den satten Bässen der Musiker in den Grundfesten erschüttert, einen Tag nach Kylie standen Brian May und Roger Taylor von Queen auf der Bühne, nur unwesentlich jünger als das Klubhaus.

Singapur, das ist cool und sexy und gibt der Formel 1 zurück, was ihr auf einigen Rennstrecken abhandengekommen ist: Glamour. Ich meine, wie viele Formel-1-Austragungsorte kennen Sie, an welchen Finalistinnen der Miss-Universe-Wahl neben Musik- und Film-Stars durchs Fahrerlager schreiten?

Das weiss auch die Geschäftswelt. Kein Rennort bieten eine so ideale Infrastruktur, um Kontakte zu vertiefen: Während des Tages Sitzungen in den Glaspalästen, abends an die Rennstrecke, Dinner vor- oder nachher, dann mit einer eingesprungenen Doppelschraube ins Nachtleben, das keine Wünsche offenlässt. Am nächsten Tag ist der neue Deal geritzt, bitte auf der punktierten Linie unterzeichnen.

Die Fahrer hingegen kriegen von all dem so gut wie nichts mit: Viele von ihnen bleiben streng im europäischen Rhythmus, will heissen – aufstehen so um 14.00 Uhr, dann Frühstück, ab 16.00 Uhr an die Strecke (wo einander alle «guten Morgen» sagen, was mich jedes Mal schmunzeln lässt), Mittagessen gegen 18.00 Uhr, nach Fahren und Nachbesprechungen ein leichtes Dinner, so gegen zwei Uhr früh, gegen 4.00 oder 5.00 ab ins Bett.

Viele Mitglieder des Formel-1-Zirkus gehen zu Fuss in eines der nahegelegenen Luxus-Hotels wie das Pan Pacific oder das Mandarin Oriental, und es ist immer ein wenig skuriil, wenn auf der einen Seite der Strasse die müden Darsteller aus der Rennbranche Richtung Bett streben, während ihnen die Nachtschwärmer entgegenkommen, die auf ein Taxi zur nächsten Party lauern und sichtlich noch keine Lust haben, am Kissen zu horchen.

Apropos Schlafen: Einige Hotels bieten Spezial-Verdunkelungen an, um den Rennstallmitgliedern die nötige Ruhe zu verschaffen. Das hilft freilich wenig, wenn im Hotel um zehn Uhr früh das Reinigungspersonal den Staubsauger anwirft. Leider ist der in der Regel lauter als ein heutiger Formel-1-Turbomotor.

Notfalls müssen Grossmutters Tipps herhalten, auch bei Lewis Hamilton: «Bei mir muss es stockdunkel sein im Zimmer, da hänge ich schon mal Socken über alle möglichen Kontrollleuchten, sofern sich die Geräte nicht ausschalten lassen.»

Wenn der Mercedes-Star dann friedlich vor sich hinschlummert, träumt er vielleicht von den Grosskatzen, die er in Mexiko regelmässig bei der Stiftung «Black Jaguar White Tiger» besucht.

Einen Merlion hingegen, den gibt es nur in Singapur.

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